Im Zweistromland, das durch die Flüsse Euphrat und Tigris geprägt wird, entwickelten sich vor mehr als 3000 Jahren die ersten Hochkulturen, wobei der Großteil der bekannten Geschichte Mesopotamiens von den Schub um Schub vorangehenden Einwanderung diverser Völker geprägt ist. Meist zerfiel die Region in zahlreiche Stadtstaaten, denen Könige vorstanden, die miteinander zeitweilig im Krieg standen. Weiterhin gab es Phasen, die von Großreichen dominiert wurden, sowie Phasen, in denen Mächte aus den Nachbarregionen Eroberungsfeldzüge führten.
Folgt man diesen historisch verbürgten Bedingungen, liegt es nahe hieraus ein Spiel zu konzipieren. Genau das ist Thema von „Euphrat und Tigris“. Die Spieler bauen an ihren Königreichen, und erhalten dafür Siegpunkte. Aber um zu gewinnen, ist nicht nur Machthunger gefragt. sondern auch viel Geschick notwendig. Nur wer erfolgreiche Angriffe auf benachbarte Königreiche durchführt und Angriffe abwehren kann, wer eine ausgewogene Bevölkerung aufbaut und Schätze erwirbt, wird letztlich das Spiel für sich entscheiden.
Die 1997 bei „Hans im Glück“ erschienene Erstausgabe von „Euphrat und Tigris“ war bis vor kurzem vergriffen, als nunmehr nach 10 Jahren Reiner Knizias Meisterwerk, das 1998 auf die Auswahlliste zum Spiel des Jahres kam und im selben Jahr den Deutschen Spielepreis erhielt, jetzt als Neuauflage in leicht geänderter grafischer Aufmachung, mit neuen Spielvarianten und einem neuen, zweiten Spielplan bei „Pegasus Spiele“ erschienen ist. Ob dies letztlich aus Geldnot oder wegen der großen Nachfrage geschah, mag an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Zumindest muss man nun nicht mehr lange suchen oder bei Auktionen entsprechend hohe Preise bezahlen.
Zunächst einmal zum Inhalt des schön und stabil gestalteten Spielkartons, aus dem es eine ganze Menge Zeug auszupacken gilt: 153 Zivilisationsmarken, 8 Katastrophen-Marker, 1 Konfliktmarker, 6 Monumente, 16 runde Marker (die als Spielsteine für die 4 Dynastien eingesetzt werden), 140 Siegpunktwürfel in unterschiedlichen Größen und Farben, 14 Schatzwürfel, 1 Stoffbeutel, 4 Sichtschirme, 4 Zivilisations-Gebäude für das Ausbauspiel, ein großes und beidseitig bedrucktes Spielbrett und natürlich eine Spielanleitung sowie eine Kurzfassung der Spielregeln.
Das komplette Spielmaterial ist insgesamt von guter Qualität, wie man sie bei Produkten unter der Mitwirkung von Reiner Knizia gewöhnt ist: Die Siegpunkt- und Schatzwürfel sind aus Holz, ebenso wie die zweiteiligen Tempel, die 16 Anführer, die Monumente sowie die Zivilisations-Gebäude. Die Zivilisationsmarker haben ein ansprechendes und auf das Spiel abgestimmtes Design. Das gilt auch für den doppelt bedruckten Spielplan, der als Zweistromland gestaltet ist und an das frühzeitliche Mesopotamien erinnern soll. Die solide und schön gestalteten Sichtschirme für die Spieler dienen nicht nur zum verdeckten Ablegen der erworbenen Siegpunktwürfel, sondern zeigen auf der Rückseite eine Zusammenfassung der Zug-Reihenfolge sowie der Regeln zur Austragung von Konflikten – in diesem komplexen Spiel immer wieder sehr hilfreich zur schnellen Orientierung. Die mit zahlreichen illustrierten Spielbeispielen versehene Anleitung ist in ihrer Umsetzung trotz der komplexen Regeln gut gelungen - sowohl vom Verständnis für den Spieler als auch von der Gestaltung - und erleichtert dem Neuling den Einstieg.
Der Spielablauf als solcher ist grundsätzlich nicht sehr schwer, allerdings ist die Tatsache, dass man in diesem Spiel keine eigene zugeteilte Farbe spielt, sondern ein Symbol (Vase, Stier, Löwe oder Pfeil/Bogen) erhält, welches eine der vier Dynastien darstellt, zu Beginn sehr gewöhnungsbedürftig. Die vier Farben dienen in „Euphrat und Tigris“ nur dazu, die vier verschiedenen Bereiche (Bevölkerung, Landwirtschaft, Markt und Tempel) zu kennzeichnen. Hat man sich mit dieser Bedeutung vertraut gemacht und diese für den weiteren Verlauf des Spieles verinnerlicht, kann nicht mehr sonderlich viel schief gehen.
Die folgende Beschreibung des Spiels erhebt nicht den Anspruch, die Regeln bis ins letzte Detail wiederzugeben und auf alle Besonderheiten des Spielmechanismus hinzuweisen. Vielmehr möchte sie in vereinfachter Form auf das Spiel neugierig machen, und unter Umständen die Kaufentscheidung erleichtern bzw. je nach Geschmack auch von einem Kauf abhalten. Doch jetzt geht es richtig los:
Nachdem sich die Spieler für eine Dynastie entschieden haben, erhalten sie jeweils ihre Anführer in Form von vier runden, unterschiedlich gefärbten Markern, die das jeweilige Symbol der Dynastie tragen: Die Farbe schwarz symbolisiert den König, blau den Bauern, grün den Händler und rot den Priester. Alle Typen jeder Farbe findet man in jeder Dynastie. Weiterhin werden auf die geflügelten Wesen auf dem Spielplan je eine rote Tempelmarke und ein Schatz gestellt.
Jeder Spieler erhält dazu noch zwei Katastrophenmarker und sechs zufällig gezogene Zivilisationsmarker, die verdeckt hinter dem Sichtschirm aufbewahrt werden. Die Zivilisationsmarker haben vier verschiedene Aufdrucke und symbolisieren die vier unterschiedlichen Aspekte eines ausgewogenen Königreiches: Tempel, Markt, Bevölkerung und Landwirtschaft, wobei die Landwirtschaft nur direkt am Fluss eingesetzt werden darf. Die Farben der Zivilisationsmarker haben, wie erwähnt, selbst keine Bedeutung für die Zugehörigkeit zu einer Dynastie und damit zu einem Spieler. Sie sind neutral und können, nachdem sie auf dem Spielbrett ausgelegt wurden, von jedem Spieler zum Aufbau seines eigenen Königreiches genutzt werden.
In den vier Farben der Zivilisationsmarker gilt es nun für die Spieler Siegpunkte zu erringen. Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, möglichst viele Marker einer Farbe zu besitzen. Vielmehr müssen die Spieler versuchen, ein ausgewogenes Königreich mit Vertretern aller Farben zu errichten, um Siegpunkte zu erlangen, da am Ende die erspielten Punkte in der Farbe verglichen werden, die am wenigsten weit entwickelt ist. Wer in seinem schwächsten Bereich die meisten Punkte erreichen konnte, ist letztlich Sieger für diese Farbe. Punkte in einer Farbe können auf zwei Arten erspielt werden: Durch das Anlegen von Zivilisationsmarkern an ein Königreich, in dem ein Anführer der entsprechenden Farbe steht, sowie durch das Austragen von Konflikten. Doch dazu gleich mehr.
Das Spiel läuft im Uhrzeigersinn und jeder Spieler darf während seines Spielzuges zwei der folgenden Aktionen ausführen, wobei man Aktionen auch doppelt ausführen darf:
Auslegen einer Zivilisationsmarke Ein Zivilisationsmarker darf auf alle freien Felder gelegt werden, wobei die Sonderstellung der Landwirtschaft zu beachten ist, die nur direkt am Fluss möglich ist. Durch das Auslegen von Zivilisationsmarkern können neue Regionen und Königreiche erschaffen oder bestehende erweitert bzw. vereint werden. Dabei sind Regionen ein oder mehrere benachbarte, horizontal oder vertikal zusammen liegende Zivilisationsmarker an die kein Anführer angrenzt. Sobald ein Anführer benachbart zu einer Region ins Spiel gebracht wird, wird diese Region zu einem Königreich. Werden Zivilisationsmarker direkt an ein Königreich angelegt, so erhält der Spieler, der einen Anführer in der entsprechenden Farbe in diesem Königreich platziert hat, einen Siegpunkt in dieser Farbe.
Siegpunkte werden auch dann verteilt, wenn neue Zivilisationsmarker in ein Königreich integriert werden, das einen Anführer derselben Farbe, bzw. einen König aufweist. Die Siegpunkte werden dann durch die Siegpunktwürfel der entsprechenden Farbe verdeckt hinter dem Sichtschirm des Spielers mitgezählt. Spannend bleibt es somit bis zum Schluss, denn es gibt keinen allgemeinen Zähler, auf dem man jederzeit den Punktstand jedes einzelnen Spielers ablesen kann. Wer wie viele Punkte sammeln konnte, bleibt dem mehr oder weniger aufmerksamen Mitspieler vorbehalten.
Verschieben, Zurücknehmen oder Auslegen eines Anführers Ein eigener Anführer kann neu auf das Spielbrett gesetzt oder auf ein freies Feld des Spielbretts versetzt werden. Dabei dürfen eigene Anführer nur in die unmittelbare und noch freie Umgebung von Tempeln gesetzt werden. Falls der Tempel, in dessen Umgebung sich ein Anführer befindet, zerstört wird, wird dieser automatisch vom Spielfeld entfernt. Es ist auch möglich, einen Anführer wieder vom Spielbrett zurückzuziehen. Die Anführer einer Dynastie dienen dem Anbau von weiteren Zivilisationsmarkern ihrer Farbe - zumindest wenn es Siegpunkte bringen soll.
Eine Katastrophen-Marke legen Zivilisationsmarker können durch eine Katastrophen-Marke vernichtet werden. Werden diese Marker eingesetzt, verbleiben sie bis zum Spielende auf dem Spielfeld an ihrem Platz. Auf diese Weise können bestehende Königreiche und Regionen geteilt, oder Anführer aus einem Königreich durch das Abdecken von Tempeln vertrieben werden. Man kann sie aber auch auf ein freies Feld legen, dann ist dieses Feld dauerhaft blockiert.
Bis zu sechs Zivilisationsmarker tauschen Der Spieler kann von den Zivilisationsmarkern hinter seinem Schirm bis zu sechs aus dem Spiel nehmen und sich dafür neue aus dem Beutel ziehen. Diese dürfen bereits während der zweiten Aktion eines Spielzuges verwendet werden. Die getauschten Zivilisationsmarker sind aus dem Spiel.
Am Ende des Zuges wird jeweils der Vorrat an Zivilisationsmarkern hinter dem Sichtschirm des aktiven Spielers für die anderen verdeckt auf insgesamt 6 ergänzt. Eingesetzte Katastrophen-Marken gelten als verbraucht und werden nicht ersetzt. Beendet ein Spieler seinen Zug, erhält dieser für jedes berührte Monument zusätzliche Siegpunkte.
Da Monumente Zeichen besonderer Macht sind, bringen sie dem Spieler am Ende wichtige Siegpunkte ein, soweit sich einer seiner Anführer im Königreich aufhält und einer der Farben des Monuments entspricht. Im Spiel sind insgesamt sechs Monumente in unterschiedlichen Farbkombinationen vorhanden. Bauen kann man ein solches Monument an den Stellen, an denen vier gleichfarbige Zivilisationsmarker im Quadrat liegen. Die Monumente bestehen jeweils aus zwei Farben und müssen mit einer dieser Farben zur Farbe der Basis passen, wobei die vier Zivilisationsmarker der Basis beim Bau umgedreht werden. Das Monument wird in jeder Runde je einen Siegpunkt seiner beiden Farben für denjenigen abwerfen, der im dazugehörigen Königreich den entsprechenden Anführer besitzt.
Die Schätze wurden zu Beginn des Spiels auf dem Spielfeld auf den Tempelmarkern abgelegt. Doch wie kommt man an diese? Durch das Setzen eines Anführers oder einer entsprechenden Marke kann ein Königreich so erweitert werden, dass am Ende mehr als ein Schatz in einem Königreich ausliegt. Dann erhält der Besitzer des Händlers in diesem Königreich am Ende der Aktion alle Schätze bis auf einen. Wichtig sind die Schätze für die Schlusswertung – hier können sie als Joker eingesetzt werden.
Ein Königreich ist eine Ansammlung von Zivilisationsmarkern, die sich waagerecht oder senkrecht berühren und die mindestens an einen Anführer grenzen. Es ist dabei unerheblich, ob mehrere Anführer verschiedener Dynastien in einem Königreich vorhanden sind, solange es sich nicht um zwei derselben Farbe handelt. Sollte dies der Fall sein, und ein Spieler legt einen Anführer der gleichen Farbe aus, liegt ein Konflikt vor, den es durch einen Kampf zu entscheiden gilt. Die jeweils unmittelbar an die Anführer angrenzenden Tempel werden zunächst gezählt. Diese Zahl kann zusätzlich unterstützt werden, in dem beliebig viele Tempelmarker aus dem Bestand hinter dem Spielschirm „geopfert“ werden. Diese sind nach dem Konflikt allerdings aus dem Spiel und zählen bei der Schlusswertung nicht mehr. Wer also mehr Tempel und damit mehr göttliche Macht für sich gewinnen kann, gewinnt und der Verlierer muss das Feld räumen.
Spielende und Schlusswertung Das Spiel endet in dem Moment, in dem ein Spieler seinen Vorrat an Zivilisationsmarkern nicht mehr auf insgesamt sechs aufstocken kann oder falls nur noch zwei oder weniger Schätze auf dem Spielplan vorhanden sind. Die Schlusswertung des Spieles ist ein weiterer Clou: Die Spieler sortieren ihre Siegpunktwürfel nach Farben und zählen, wie viele Punkte sie jeweils pro Farbe erreicht haben. Hierbei können die durch Schätze erhaltenen Siegpunktwürfel als Joker eingesetzt werden, um erlittene Schwächen wieder Wett zu machen. Es gewinnt der Spieler, der in seiner schlechtesten Farbe die meisten Siegpunktwürfel errungen hat. Bei Gleichstand wird der zweitschwächste Bereich gezählt usw. Es lohnt sich also seine Kräfte ausgewogen zu verteilen.
Die neuen Varianten Hier finden die vier Zivilisations-Gebäude Anwendung und machen das Spiel noch spannender und dynamischer. Ein solches Gebäude kann gebaut werden, wenn der aktive Spieler einen Zivilisationsmarker so legt, das eine Reihe oder Spalte (waagrecht oder senkrecht) aus mindestens drei Markern gleicher Farbe ohne Unterbrechung auf dem Spielbrett entsteht. Jedes Mal, wenn ein Spieler nun einen Zivilisationsmarker in der Farbe des Zivilisations-Gebäudes in dieses Königreich legt, erhält er zwei Siegpunkte (und nicht nur einen).
Wer genug von dem „klassischen“ Spielplan hat, sollte sich die alternative Rückseite anschauen. Eine gänzlich neue Landschaft und zahlreiche neue Möglichkeiten zur Erschaffung von Königreichen stehen hier zur Verfügung. Langeweile dürfte mit diesem neuen Spielplan so schnell nicht aufkommen, selbst wenn man meint, sämtliche Kniffe dieses Spieles zu kennen. Fazit:Von seinen Grundzügen ist „Euphrat und Tigris“ ein anspruchsvolles, sehr komplexes und auf Taktik ausgelegtes Brettspiel. Allerdings gewinnt es durch das verdeckte Nachziehen von Zivilisationsmarkern aus nunmehr nur noch einem Stoffbeutel erheblich an Schwung, da es letztlich dem Glück überlassen bleibt, ob die Zivilisationsmarker in die Strategie passen. Aber selbst bei einer guten Taktik und den „richtigen“ Zivilisationsmarkern, bleibt bei diesem Spiel die Spannung bis zur letzten Runde erhalten, da selbst die Abrechnung der Punkte noch manche Überraschung bereit halten kann. Selbst als aufmerksamer Spieler vermag man nicht die ganze Zeit den Punktestand oder das Vorgehen seiner Konkurrenten zu verfolgen oder zu interpretieren.
„Euphrat und Tigris“ verlangt von seinen Spielern Konzentration und einen guten Überblick während des Spiels. Insofern eignet es sich nicht unbedingt für eine gesellige Runde, in der man einfach etwas nebenbei spielen möchte. Man muss schon ein wenig Zeit und Geduld aufbringen, um den Spielmechanismus zu verstehen. Zudem dauert es auch eine ganze Weile, bis man die zunächst vermeintlich komplizierten Regeln meistert. Hilfreich ist die übersichtliche und gut verständliche Spielanleitung mit ihren zahlreichen Beispielen und dem Glossar, die eigentlich keine Frage unbeantwortet lässt. Die neuen Varianten halten keine bahnbrechenden Neuerungen für das Spiel bereit, sind aber dennoch gelungen und erhöhen selbst bei gestandenen Spielern für lange Zeit den Spaßfaktor.
Durch den Verlag wird „Euphrat und Tigris“ für Spieler ab 12 Jahre empfohlen. Da das Spiel jedoch sehr komplex ist und die bisherigen Erfahrungen mit „jüngeren“ Spielern mich eines Besseren belehrt haben, sollte man sich den Kauf für Kinder gut überlegen.
Unabhängig davon, mit wie vielen Personen man „Euphrat und Tigris“ spielt, macht es in allen Kombinationen sehr viel Spaß. Zugegebenermaßen ist natürlich das Spiel mit vier Personen immer noch mein persönlicher Favorit, gibt es doch zahlreiche Verwicklungen die sich aus entsprechend vielen „kämpfenden“ Dynastien ergeben können. Selbst für alte Hasen, die Freundschaft mit der alten Edition geschlossen haben, dürften sich durch den neuen alternativen Spielplan und den Einsatz der Zivilisations-Gebäude neue Perspektiven ergeben. Mit dem empfohlenen Verkaufspreis des Verlages von 39,95 EUR gehört „Euphrat und Tigris“ sicherlich nicht zu den günstigen Erwerbungen für die Sammlung, doch dürfte ein langer Spielspaß und die solide Verarbeitung den Preis mehr als rechtfertigen. Von meiner Seite die eindeutige Kaufempfehlung und die Frage, ob man vielleicht mit der zweiten Auflage auch noch Spiel des Jahres werden kann? |
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