Links zur Rezension Spoiler Warnung: Da es sich um die Rezension einer Abenteuersammlung handelt, wird auf den Inhalt der Abenteuer detailliert eingegangen. Diese Rezension sollte also nicht von Spielern gelesen werden.
Einleitung Ende 2006 erschien mit „Cthulhu Now“ das Regelbuch für Cthulhu Abenteuer in der Gegenwart. Mit „Unfassbare Mächte“ (UM) versorgt Pegasus Press die Spielergemeinde jetzt mit neuen Abenteuern für dieses Setting. Bei dem ca. 200 Seiten dicken Hardcover handelt es sich um die Übersetzung des von Chaosium 2001 publizierten „Unseen Masters“ (CHA2384, ISBN 1-56882-120-4).
Erste Eindrücke Im Gegensatz zu den Veröffentlichungen anderer Chaosium Produkte bei Pegasus Press handelt es sich hier weitgehend „nur“ um eine Übersetzung des Originals. Die Abenteuer wurden nicht nach Deutschland transportiert, sondern verwenden weiterhin die Originalschauplätze in den USA. Ebenso wurden Innenillustrationen, Handouts und NPC Portraits übernommen - lediglich die Karten wurden deutlich verbessert. Die Übersetzung liest sich angenehm und flüssig, Rechtschreibfehler fielen mir keine auf. Für einen Fehler im Layout der Seiten 12/13 wurde mittlerweile Abhilfe geschaffen. Die beiden korrigierten Seiten gibt es als Download auf der Pegasus-Homepage.
„UM“ unterscheidet sich auch in einem anderen wesentlichen Punkt von anderen Abenteuersammlungen: Alle Abenteuer stammen aus der Feder des gleichen Verfassers, Dr. Bruce Ballon. Und die Tatsache, dass Ballon nicht nur freiberuflicher Autor sondern hauptberuflicher Psychiater ist, lässt aufhorchen. Untermauert wird dieser Eindruck vom Vorwort, in dem man neben einem kurzen Abriss der Abenteuer auch erfährt, dass das Original nicht nur einen Origins-Award als „Bestes Rollenspielabenteuer“ und einen „Outie Award“ als „Bestes Spielmaterial“ erhielt, sondern auch als erstes Rollenspielprodukt den „Mary Seeman Award for Outstanding Achievement in the Area of Psychiatry and Humanities“ gewann. Handelt es sich also wirklich um ein „herausragendes Rollenspielbuch“, wie das Vorwort weiterhin behauptet?
Die Abenteuer Im ersten Abenteuer des Bandes treibt ein Serienmörder sein Unwesen in New York. Die Charaktere - idealerweise FBI Agenten - werden von der Polizei um Hilfe gebeten. Die im Stadtteil SoHo gefundenen Frauenleichen sind blutleer und aufgrund des Vampirmotivs vermutet man eine Verbindung zur Goth-Szene. Neben der üblichen Beinarbeit - wie der Besichtigung des Tatorts, dem Gespräch mit den geistig instabilen Augenzeugen und dem Gerichtsmediziner - können sich die Spieler eine Goth-Disco, Tätowierläden, Schönheitssalons und Sexshops in SoHo ansehen. Sie werden sicher auch bald herausfinden, dass der Mörder auf seinen nächtlichen Streifzügen nicht nur junge Frauen umbringt, sondern auch in Juwelierläden einbricht und immer nur bestimmte Diamanten stiehlt. Den eigentlichen Durchbruch in der Ermittlung liefert aber eine seltsame blaue Substanz, die sich an den Tatorten findet. Durch ihre Recherchen können die Charaktere herausfinden, dass die Substanz bereits 1928 bei der Ermittlung um den Tod des Okkultisten Halpin Chalmers sichergestellt wurde. Hier knüpft das Abenteuer direkt an die Mythosgeschichte „Die Hunde von Tindalos“ an und spinnt diese fort. Dr. Morton, der Gerichtsmediziner dieses Falles, experimentierte mit dieser seltsamen Substanz und glaubte, darin eine Möglichkeit gefunden zu haben, sein Leben zu verlängern. Tatsächlich verwandelte die Substanz ihn in einen Hybriden aus Mensch und Tindalosier. Morton kam 1931 nach New York, um seine Studien in der Anonymität der Großstadt fortzuführen und verfiel dann in seinem unterirdischen Labor in SoHo in einen Tiefschlaf, aus dem er erst vor ein paar Tagen erwachte. Die Morde gehen auf sein Konto, da er sich mittlerweile von menschlicher Lebensenergie ernähren muss. Die Juwelen benötigt er, um in einem Ritual den Herren der Tindalos zu beschwören. Während die Verbindung in die Goth-Szene ursprünglich eine falsche Fährte war, gibt es jetzt einen echten Zusammenhang. Ein einzelgängerischer Goth hat Morton gefunden und sich ihm als Diener angeboten. Er schlägt diesem vor, das Ritual bei einem Rave im Central Park abzuhalten, da die Zahl der Opfer damit wesentlich größer wird. Bleibt zu hoffen, dass die Spieler bis dahin genug über die Hunde von Tindalos erfahren haben, um die beiden von ihrem Plan abzuhalten.
„Die Wilde Jagd“ ist das konventionellste Abenteuer im Band, was nicht heißen soll, das es schlecht ist. Die Grundidee des Szenarios aus „Serienmorden – polizeilicher Ermittlung – Verhindern des Rituals“ ist sicher nicht neu, aber auf 70 Seiten mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitet, was ebenso auf die anderen Szenarien zutrifft. Die NPCs (Polizisten, Opfer, Zeugen, Bewohner SoHos) sind mit Charakterporträts und Spielstatistiken jeweils auf einer drittel bis halben Seite lebendig beschrieben, wobei großer Wert auf falsche Fährten gelegt wird. Dem Spielleiter wird eine Fülle an Material an die Hand gegeben: der zeitliche Ablauf der Morde, Autopsieberichte, Zeugenaussagen, neue Mythosbücher, die Beschreibung der Goth-Szene und des Raves im Central Park, verschiedene Überlegungen, wie das Ritual aufgehalten werden kann usw. Dies erleichtert das Leiten des Abenteuers ungemein. Wegen der hohen Zahl der NPCs wäre darüber hinaus vielleicht eine Kurzübersicht oder eine relationship map hilfreich gewesen. Was vielleicht im Nachhinein bei den Spielern einen etwas schalen Geschmack hinterlässt, ist die Tatsache, dass man bei der Ermittlung in SoHo zwar mit einer Reihe interessanter NPCs interagieren kann, da es sich aber bei diesen meist um falsche Fährten handelt, wird das Abenteuer dadurch aber nicht unbedingt vorangetrieben. Den wesentlichen Hinweis auf Morton erhält man dann außerhalb von New York. Etwas Vorsicht muss man auch bei dem Showdown walten lassen, will man nicht die ganze Gruppe auslöschen. Beim Ritual am Ende erscheint neben zehn Hunden von Tindalos, die an sich schon eine Herausforderung darstellen, einer ihrer Herren, der sich in der Gewichtsklasse eines Großen Alten bewegt.
Der zweite Beitrag, „Die Wahrheit wird euch frei machen“, ist weniger Abenteuer als Szenario, da es (selbst für ein Cthulhu Szenario) einen sehr offenen Handlungsablauf hat. Einer der Charaktere („der Heimgesuchte“) erkennt, dass unsere Realität nur ein Schein ist, hinter dem sich ein kosmischer Schrecken verbirgt und die Wahrnehmungen der Menschen beeinflusst. Daher gründet der Spieler selbst einen Kult, um einen Zauber zu wirken, der den Geist der Menschen befreien und die Realität erkennen lassen soll. Tatsächlich ist der Heimgesuchte durch das Lesen eines Mythosbuchs (das man bereits im ersten Abenteuer des Bandes auftauchen lassen kann) einer psychotischen Störung unterlegen. Die vermeintliche Bedrohung ist nur eine paranoide Fantasie des Spielers. Der Ober-Dämon entstammt einem Comic, das der Charakter als Kind gelesen hat und an das er sich nicht mehr bewusst erinnern kann. Die Handlanger des Dämons sind Personen, die dem Charakter irgendwann übel mitgespielt haben – etwa sein alter Lehrer oder ein Schulhof-Schläger aus der Grundschule. Allerdings gibt es auch ein echtes übernatürliches Element: Das Ritual, das der Charakter in seinem messianischen Wahn zur Befreiung der Menschen durchführen will, ist eine Beschwörung Daoloths. Die Situation wird durch zwei Organisationen verkompliziert, die auf den Spieler und seinen Kult aufmerksam werden. Die eine ist ein Orden der katholischen Kirche aus fanatischen Mythosjägern, die den Spieler umbringen wollen, die andere ist der Orden der Tempelritter, der sich das okkulte Wissen des Spielers aneignen (und ihn ebenfalls umbringen) will. Einerseits ist das Szenario sehr reizvoll, da es die anderen Charaktere vor die Frage stellt, was real ist. Die Wahnvorstellungen des Charakters, der zeitliche Ablauf seiner Krankheit und der Bezug zu seiner realen Situation sind hervorragend beschrieben. Man merkt, dass Bruce Ballon genau weiß, wovon er schreibt. Die paranoiden Fantasien des Heimgesuchten entsprechen den in vielen Cthulhu Abenteuern vorkommenden Klischees von Weltverschwörungen. Anfangs mögen die Erklärungsversuche des Heimgesuchten noch funktionieren. Aber wenn sein Verhalten immer bizarrer und bedrohlicher wird und sich die Hinweise auf einen Zusammenhang mit seiner Vergangenheit mehren, werden sich die Charaktere fragen müssen, was sie glauben sollen. Werden sie sich offen gegen den Heimgesuchten und seinen Kult wenden und dadurch ebenfalls zu Zielscheiben werden? Oder versuchen sie, den Charakter dazu zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen? Problematisch könnte allerdings die Umsetzung des Szenarios werden. Eine Reihe von Fragen muss sich jeder Spielleiter selbst beantworten und das Szenario an seine Gruppe und deren Spielstil anpassen. Das Szenario geht davon aus, dass einer der Spieler die Rolle des Heimgesuchten übernimmt, was sicherlich reizvoller ist, als diese Rolle einem NPC zu geben, der vorher bereits eingeführt wurde. Wie viel verrät man diesem Spieler über die Handlung? Lässt man ihn völlig im Dunklen tappen und beschränkt sich auf Regieanweisungen oder weiht man ihn zuvor ein? Zwingt man den Spieler seine Wahnvorstellungen konsequent umzusetzen, was zur Ermordung zwar unsympathischer, aber letztlich unschuldiger NPCs führen kann? Wie nehmen es die anderen Spieler auf, wenn der Heimgesuchte gegen sie Gewalt anwendet, sei es indirekt durch die Anhänger seines Kultes oder direkt durch Zaubersprüche aus dem Mythosbuch?
Einer meiner Spieler hat diese Abenteuer ebenfalls gelesen, hier seine Meinung: Als potentieller Spieler der in „UM“ enthaltenen Abenteuer durfte ich nur das zweite Abenteuer lesen, da unser Spielleiter (der Hauptrezensent) nicht vorhat, es zu verwenden. Das kann ich gut verstehen, denn obwohl die Grundidee sehr interessant ist, halte ich es für sehr schwierig, das Abenteuer wirklich zu spielen. Erstens braucht es die volle Kooperation eines bestimmten Spielers – ohne die kann ich mir den Ablauf kaum vorstellen. Und zweitens kann der Clou der Geschichte sehr leicht zur völligen Frustration der anderen Mitspieler führen. Ich könnte es mir noch eher vorstellen, wenn der Plot näher am bekannten Cthulhu-Mythos liegen würde. So wie er ist, würde es mir schwer fallen, ihn glaubhaft zu präsentieren oder zu akzeptieren. Aber selbst dann erforderte er einen sehr erfahrenen und geschickten Spielleiter. Ein Erfahrungsbericht von einer Cthulhu-Runde, die dieses Abenteuer tatsächlich durchgespielt hat, würde mich sehr interessieren.
In „Groß werden“ verbringt der elfjährige David, der Sohn/Neffe/Mündel eines der Spieler, mit zwei Freunden zusammen den Sommer in einem Feriensommerlager an der Küste von Rhode Island. Durch einen mysteriösen Vorfall wird das Lager zerstört, die Bewohner werden getötet oder verfallen in einen Schockzustand. Machen sich die Charaktere auf die Suche nach der Ursache der Katastrophe, finden sie heraus, dass in der Narragansett Bay ein mächtiges Mythosartefakt schlummert, bei dem es sich um den leuchtenden Trapezoeder aus der gleichnamigen Lovecraft Story (engl: „The Haunter of the Dark“) handelt. Der Kristall dient als Tor für das „Ding aus dem Dunklen“, das nicht nur das Lager verwüstete, sondern auch von David Besitz ergriff. Die Charaktere müssen sich nicht nur mit Davids Besessenheit auseinandersetzen, sondern auch mit einer Kinderpsychologin, die David in ihre Obhut nehmen will. Sie ist eine „alte Bekannte“ in Verkleidung, nämlich Nitocris aus der „In Nyarlathoteps Schatten“ Kampagne. Nitocris will den besessenen David seiner wahren Bestimmung als „Dunkler Messias“ oder Antichrist zuführen. Ähnlichkeiten mit dem Film „Das Omen“ sind nicht zufällig. Auch dieses Abenteuer zeichnet sich wieder durch einen hohen Detailgrad aus. Nicht nur Personen, Schauplätze und die lokalen Legenden der Narrangsett Bay sind ausführlich beschrieben, es wird auch auf die Vorgeschichten des leuchtenden Trapezoeders und von Nitocris eingegangen. Besonders interessant ist auch die Schilderung der traumatisierten Überlebenden des Lagers. Hier merkt man wieder, dass Ballon vom Fach ist. Etwas zwiespältig ist die Idee, David zu einem Verwandten eines der Charaktere zu machen. Das bietet natürlich einen guten Ansatzpunkt für den Einstieg in das Abenteuer und erhöht den emotionalen Impact der späteren Ereignisse. Allerdings schränkt es die Verwendbarkeit des Abenteuers ein, da man David zuvor (vielleicht in einem früheren Abenteuer) einführen muss. Ansonsten wirkt das Abenteuer forciert, da die Beziehung zu David zu Beginn vom Himmel fällt.
Fazit: Ist Pegasus Press mit „Unfassbare Mächte“ der große Wurf gelungen? Meiner Meinung nach nicht, denn ich kann den Band nicht uneingeschränkt empfehlen.
Bei einem Band mit weniger detailliert ausgearbeiteten Abenteuern (bei 20-30 Seiten pro Abenteuer würde man 6-8 in einem Band mit insgesamt 200 Seiten erwarten können) von unterschiedlichen Autoren ist die Bandbreite der Ideen ebenso wie die Wahrscheinlichkeit größer, dass für jeden Geschmack etwas dabei ist. „UM“ beinhaltet „nur“ drei Abenteuer, die sehr detailliert ausgearbeitet sind und vom gleichen Autor stammen. Gefällt einem der Stil des Autors, so ist auch die Chance größer, dass einem die Abenteuer gefallen – aber auch umgekehrt. Man muss sich also darüber im Klaren sein, dass man sich auf eine Abenteuersammlung einlässt, die einem entweder gut oder gar nicht gefällt.
Auch lassen sich die Abenteuer nur bedingt „out-of-the-box“ spielen. Will man den Themen, den detailliert ausgearbeiteten NPCs und den Hintergründen gerecht werden, wird man den Band intensiver durcharbeiten müssen. Während das erste Abenteuer einen recht einfachen Einstieg bietet, muss man für das letzte Abenteuer schon mehr Vorarbeit leisten. Kann man sich bei diesen beiden Abenteuern noch vorstellen, dass man daraus teilweise Ideen verwenden kann, muss man sich beim zweiten Szenario grundsätzlich überlegen, ob man ein Abenteuer spielen will, in dem einer der Charaktere wahnsinnig ist und gegen den Rest der Gruppe agiert.
In Anbetracht dieser Einschränkungen kann man zusammenfassen: Gefällt einem Ballons Stil, seine detaillierte Ausarbeitung der Abenteuer und die Art, wie er den Mythos und sein psychologisches Fachwissen in seine Abenteuer einbaut, so hat man einen Abenteuerband, der sich gut lesen lässt. Kommt hinzu, dass die oben angesprochenen Grundideen der Abenteuer sich interessant anhören und ist man bereit, Zeit in die Vorbereitung der Abenteuer zu investieren, so hat man mit „UM“ auch einen Band, der sich gut spielen lässt. |
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