Allgemeines:
Den Stil der Rabengesänge als a-capella zu bezeichnen, wäre dabei noch zu wenig gesagt. Castus aka Karsten Liehm (begannt als Mitbegründer der Mittelalter-Combo Corvus Corax) stellt uns hier ein vielstimmiges, komplett selbst eingesungenes Werk vor, bei dem seine über vier Oktaven reichende Stimme voll zur Geltung kommt. Damit folgt er dem Beispiel berühmter Sänger wie Freddie Mercury, der mittels des Overdub-Verfahrens, das auch hier Anwendung findet, die Chorbegleitung zu seiner Stimme oft selbst einspielte. Er treibt das ganze aber noch ein Stück weiter, wenn seine Stimme bis zu 200mal übereinander gelagert ist und damit nicht nur den Chor, sondern auch die Musikinstrumente ersetzt.
Diese Sangestechnik wendet Castus nun auf Lieder aus den verschiedensten Traditionen an. Vertonungen von Texten Heinrich Heines und Francois Villons wechseln mit Trinkliedern aus dem deutschen, englischen und normannischen Sprachraum ab; die Carmina Burana haben ebenso ihren Auftritt wie auf rotwelsch gesungenes bekanntes Schlaflied. Auf verschiedene Weisen werden dabei drei immer wiederkehrende Themen - Wein, Weib und Tod - beleuchtet. Genaues Zuhören lohnt sich also.
Die Lieder in der Einzelkritik:
Der Sommerkanon, ein Kanon, stammt aus dem englischen Frühmittelalter, genauer dem 13. Jahrhundert und ist eines der ersten Lieder, für die es sowohl einen (hier präsentierten) säkulären als auch einen religiösen Text gibt. Als erstes Lied des Albums stellt es so etwas wie den Maßstab dar, an dem sich der Rest der Rabengesänge orientiert: nicht besonders eingängig entfaltet der vielstimmige Gesang Castus Rabensangs erst nach mehrmaligem Hören seinen besonderen Charme. Wenn man sich darauf einlässt, wird aber man mit einem vielschichtigen Hörerlebnis belohnt. Für cineastisch interessierte Musikfreunde sei darauf verwiesen, dass der Gesang auch in dem 1973 veröffentlichten Horrorstreifen „The Wicker Man“ (mit Christopher Lee) benutzt wurde, ein Film, der auf Umwegen auch zu dem Event „Das Fest des Weidenmanns“(The Wickerman Fest“) im MMORPG „World of Warcraft“ beigetragen hat.
Die Jungfrau ist der erste von zwei Beiträgen des deutschen Romantikers Heinrich Heine für die Rabengesänge. Wie in einem der wohl bekanntesten Gedichte Heines, der „Loreley“, geht es hier auch um die Verbindung der Themen Frau und Tod, doch während in der Loreley die Frau die Todbringerin ist, wird hier ihre eigene Begegnung mit dem Tod, der als Spielmann auftritt, thematisiert. Castus transportiert hier überzeugend die bedrückende Stimmung des Textes, alleine der in Fistelstimme präsentierte Auftritt der Jungfrau stört etwas die Gesamtkomposition, wobei das auch ein subjektiv gefärbter Eindruck des Rezensenten sein kann, der männlichen Fistelgesang prinzipiell absolut furchtbar findet.
Fans der Carmina Burana werden sicherlich das Lied Modo Niger, möglicherweise unter dem Titel „Olim Lacus colueram“ kennen. Das Tavernenlied vom Schwan, der sein Schicksal im Kochtopf beklagt, erschließt sich in seinem Witz leider nur dem Lateinkundigen, aber in dem Genre, in dem Castus tätig ist, kommt man um einen Beitrag aus Carl Orffs Meisterwerk wohl einfach nicht herum. Nicht dass es dem Gesamteindruck irgendwie abträglich wäre, ganz im Gegenteil.
Fifteen Men ist dann die nächste dicke Überraschung der Rabengesänge. Den Text kennt wohl jeder, der jemals Louis R. Stevensons „Schatzinsel“ in den Händen hielt. Castus gelingt es mühelos, den Stimmungswechsel vom getragenen Gesang des Mittelalters zum Gegröhle englischer Piraten nachzuvollziehen. Mit diesem Lied hatte er mich schon beim ersten Anhören fast an der Angel. Sehr schöne Interpretation.
Rondeau ist eines der vielen Lieder Francois Villons, der in der mittelalterlichen Bandszene sehr gerne Verwendung findet, oft aber in der Übersetzung Paul Zechs vertont wird. Castus bleibt im französischen Original.
Das Weib ist der zweite Beitrag Heinrich Heines zu diesem Album und wieder werden die Begriffe „Frau“ und „Tod“ miteinander in Zusammenhang gebracht. Allerdings in einer dritten Variante, denn dieses Mal ist die Frau eine passive, lachende Beobachterin eines Todes, der einem anderen (ihrem Geliebten) zustößt. Der verstörende Text wird von Castus sehr lakonisch, fast unbeteiligt, interpretiert, was den bedrückenden Gesamteindruck nur noch verstärkt.
Balaan ist laut meinen Informationen der Gott des Ales, was ich aber nicht durch Eigenrecherche verifizieren konnte. Hier handelt es sich demnach um ein normannisches Trinklied, entsprechend gefällig ist der Gesang, allerdings wirkt das Lied nach der vorangegangenen Heine-Interpretation etwas belanglos.
Bei Grad aus dem Wirtshaus, komponiert von Heinrich von Mühler, dem Historikern bekannten preußischen Kulturminister und Dichter, ist die Eignung als Trinklied hingegen unverkennbar. Nicht ganz so böse wie die Heine-Texte, dennoch voller Ironie wird hier der Säufer und seine durch den Alkohol verzerrte Sicht seiner Umwelt besungen.
Ein rotwelsches Schlaflied bildet den Abschluss des Albums. Die Melodie („Schlafe, mein Kindlein“) dürfte jedem wohlbekannt sein, die alte Diebessprache dürfte dagegen nur den wenigsten geläufig sein, ich habe jedenfalls kein Wort verstanden. Dennoch ein gelungenes Ende, mit dem Castus uns zu Bette schickt.
Wobei Ende ein klein wenig zu viel gesagt ist. Drei Bonustracks enthält das Album, man würde gerne sagen Instrumentalstücke, was natürlich angesichts der Konzeption der Scheibe eine falsche Einordnung wäre. Dennoch, Die Jungfrau, Rondeau und Fifteen Men werden uns ein zweites Mal, aber ohne die Hauptstimme präsentiert und laden zumindest im letzten Fall dazu ein, den Gesangspart selbst zu übernehmen.
Rabengesänge im Rollenspiel:
Wer nach einer geeigneten musikalischen Untermalung des nächsten Rollenspielabends sucht, ist hier ganz sicher falsch. Zu experimentell, zu außergewöhnlich ist dieses Werk und dementsprechend zu ablenkend dürfte es auf die Spieler wirken. Möglicherweise stört es sogar eher, denn wie schon oben erwähnt, entfalten die meisten Lieder ihren Reiz erst beim mehrmaligen Hören. Dennoch gibt es einzelne Lieder, die man an geeigneter Stelle vielleicht ins Spiel einbauen mag. Da wäre zum einen Die Jungfrau, die eine sehr gruselige Atmosphäre vermittelt und an eher horrorlastigen Spielabenden vielleicht gar nicht so unpassend wäre. Grad aus dem Wirtshaus könnte natürlich in jeder Taverne gesungen werden, wenn die Helden mal wieder etwas über die Stränge schlagen. Und wenig ist besser geeignet, um die Atmosphäre einer Piratenszenerie zu übermitteln als Castus Interpretation der Fifteen Men
Fazit:
Wie soll man ein Werk beurteilen, das von seinem Komponisten sicherlich in dem Bewusstsein geschaffen wurde, dass es nicht allzu viele Hörer finden wird? Den Mut zu diesem Experiment mag man jedenfalls honorieren, denn eines ist sicher: selbst hartgesottene Fans von Corvus Corax werden mit den Rabengesängen so ihre liebe Müh' und Not haben. Eingängig ist es nicht, teilweise auch etwas monoton, da die Stimme von Castus bei aller Wandlungsfähigkeit durch das angewandte Overdub-Verfahren einen Klangteppich erzeugt, der sich nahezu in jedem Lied wiederfindet. Es wäre nur allzu leicht, das Ganze mit einem Schulterzucken abzutun und sich dem nächsten, möglicherweise gefälligeren Musikgenuss zuzuwenden.
Doch dann kommt der Heine-Fan in mir durch, der sich an den beiden großartigen Interpretationen des Meisters gar nicht satt hören kann, der Pirat, der beim zweiten Mal die Fifteen Men lauthals mitsingt, der Lateiner, der sich beim Schicksal des Schwanes das ein oder andere Grinsen nicht verkneifen kann. Die Rabengesänge enthalten nicht nur einige Perlen, auch als Gesamtkonzept rückt es „gefährlich“ nahe in die Richtung echter, ernsthafter Kunst. Mag sein, dass dieses eine sehr subjektive Sichtweise ist, aber am Ende überwiegt bei mir der Respekt vor einem Künstler, der mit den Rabengesängen ein einzigartiges, in dieser Form wohl kaum wiederholbares Gesamtwerk erschaffen hat, ohne dabei irgendwelche Kompromisse mit dem Massengeschmack einzugehen.
Für Hörer, die die ausgetretenen Musikpfade der Moderne zu verlassen und Experimente zu wagen bereit sind, würde ich daher eine klare Kaufempfehlung aussprechen. Für Corvus Corax-Fans nur dann, wenn ihnen nicht wichtig ist, dass sich die Rabengesänge deutlich von der gewohnten Kost unterscheiden. Hörern, die es etwas leichter und unterhaltsamer mögen, muss ich dagegen ehrlicherweise eher abraten, da die Rabengesänge zum schnellen Entspannen zwischendurch eher ungeeignet sind.
Aber meine ganz persönliche Meinung bleibt: ein kleines Meisterwerk.