Links zur Rezension Die DunklenDie Dunklen ist das neueste Werk des deutschen Schriftstellers Ralf Isau, der seine eigenen Bücher nicht als Romane, sondern als „Phantagone“ bezeichnet. Von seiner Website:
Phantagon, das; -s, -e: 1. (Math.) Vieleck, dessen Anzahl von Seiten die Phantasie des Betrachters bestimmt. 2. Roman, in dem jeder Leser eine andere Mischung verschiedener literarischer Formen oder Gattungen (Genres) erblickt.
Das zentrale Merkmal eines Phantagons von Ralf Isau ist, dass seine phantastische Handlung in einen historischen Kontext eingebunden wird. Es entsteht, indem eigentlich nicht verbundene Fakten und Geschehnisse zusammengenommen und mittels eines dünnen fiktiven Fadens verbunden werden, ähnlich wie in gut konstruierten Verschwörungstheorien. Im Fall von Die Dunklen ist dieser Faden die mystische Fähigkeit, Menschen mittels Musik beeinflussen und sogar beherrschen zu können, und ein das praktizierender Geheimbund.
Inhaltliches Bei dem Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar taucht 2004 eine bislang unbekannte Partitur des Komponisten Franz Liszt auf. Sarah d’Albis, eine gefeierte Pianistin mit der Gabe der Synästhesie – sie nimmt Töne als Farben und Stücke als ganze Gemälde war – erblickt bei der Uraufführung eine geheimnisvolle Botschaft, die der Komponist offenbar für jemanden mit eben jener Gabe versteckt hat.
Die Botschaft ist ein Rätsel, in dem von Dingen wie „Farblauschern“ und einer „Purpurpartitur“ die Rede ist. Dem Text geht ein Symbol voran, das genau einem Familienerbstück ihrer Mutter gleicht, was sie in ihrer Annahme, sie könne eine direkte Nachfahrin Liszts sein, bestärkt.
Noch am Abend des Konzertes versuchen mehrere Fremde, mit ihr Kontakt aufzunehmen, und bald kristallisiert sich heraus, dass sie den Anfang einer Schnitzeljagd gefunden hat, an deren Ziel eben jene Purpurpartitur wartet, ein Schatz, für den eine Fraktion der Farblauscher zu töten bereit ist.
Von einer neuen Bekanntschaft überzeugt, dass sie die Partitur aufspüren muss, und eingeschüchtert von ersten Anschlägen auf ihr Leben macht Sarah sich an die Lösung der von Liszt gelegten Rätsel, und in einer Jagd, die sie kreuz und quer durch Europa an verschiedene Stationen aus Liszts Leben führt, erfährt sie nach und nach die Geschichte der Farbenlauscher, wird selbst ein Mitglied der Organisation und vereitelt schließlich ein Komplott des bösen Flügels, der namensgebenden „Dunklen Farbenlauscher“ bzw. „Adler“.
Kritik Die Dunklen hat ohne Zweifel Schwächen. Schon wenn man das Buch zur Hand nimmt und die hochtrabende Bezeichnung „Phantagon“ sieht, wo es sich doch klar um einen weiteren Ableger der von Dan Browns Illuminati losgetretenen Welle der Mysterythriller handelt, wird man skeptisch. Ganz ehrlich, würde das Buch nicht zwei meiner wichtigen Hobbys, Fantasy und klassische Musik, vereinen und hätte ich es nicht als Presseexemplar bekommen, hätte ich es wohl allenfalls als Notfalltaschenbuch vor einer langen Bahnfahrt gekauft, aber sicher nicht gezielt. Und mir wäre ein großartiges Lesevergnügen entgangen.
Wie gesagt, es hat Schwächen. Vermutlich muss man sich als Autor vor Genrekonvention verbeugen, muss die Hauptdarstellerin zwar nicht klassisch schön, aber überaus attraktiv sein und unterwegs den natürlich gutaussehenden, charmanten, einfühlsamen etc. Mann ihres Lebens kennen lernen. Ohne den alten weisen Meister, der auf halber Strecke sein Leben verliert, kurz bevor er seine Aufgabe zu Ende bringen kann, kommt wohl auch kein Buch über aufstrebend mächtigen Nachwuchs aus. Vermutlich müssen die Bösewichte über Leichen gehen, auch die der eigenen Leute. All das war schon so oft da, dass man sich Abwechslung wünscht – andererseits werden Konventionen zu Konventionen und Klischees zu Klischees, weil sie funktionieren. Daher kann man sie einem Autor nicht vorwerfen.
Ein echter Schwachpunkt sind die Bösen des Buches. Ihre Motivation ist merkwürdig, ihre Vorgehensweise oszilliert zwischen „einfach zu böse“ und banal. Ich mag es, wenn ein Antagonist in einem Buch seinen Standpunkt so eloquent darstellen kann, dass man sich als Leser dabei ertappt, ihm kurz recht zu geben. Leider kommt dieses Gefühl nicht auf. Obwohl einige der Charaktere die Organisation der Dunklen als eher neutral im DnD-Sinne charakterisieren, sind alle tatsächlich auftretenden Dunklen ganz klar böse, ohne dass darauf eingegangen wird, dass die jetzige Generation die schlimmste von allen ist. Dazu leisten sie sich einige Patzer, die Zweifel an der Qualifikation als böses Genie aufkommen lassen.
All das sind aber letztlich kleine Wermutstropfen. Das Buch lebt vor allem davon, dass das Prinzip des Phantagons, so wie ich es verstehe, hervorragend umgesetzt ist. Synästhesie gibt es. Die weiteren Fähigkeiten der Protagonisten sind mystisch, aber wer will beweisen, dass sie nicht möglich sind? Wer hat nicht von den Posaunen von Jerichow gehört, vom Polen Wladyslaw Szpilman, dessen Leben als „Der Pianist“ verfilmt wurde, vom Rattenfänger von Hameln? Alle Geschehnisse, die im Buch geschehen und hinreichend groß sind, dass sie ein Medienecho hervorrufen könnten, sind belegbar, wenn auch umgedeutet, ebenso viele Beispiele für die Macht der Musik. Den Großteil der lisztschen Spuren gibt es wirklich und wer weiß, ob ein Synästhet mit der richtigen Ausprägung nicht auch die beschriebenen Bilder sehen würde? Der geheimnisvolle Flugkörper, der während des großen Finales (belegt) auftaucht – könnte er nicht zu einer gescheiterten Verschwörung gehören?
Auf dieses bereits sehr lesenswerte Gerippe bringt Isau reichlich Fleisch in Form von netten kleinen Einfällen. Um nur einige zu nennen: Die Abfuhr, die Sarah einem Mann verpasst („Sie verwechseln da etwas. Sie sind kein Cello und ich keine Cellistin.“) hat mich laut zum Lachen gebracht, ich weiß auch nicht, warum. Der alte verschrobene Bücherfreund Karl Konrad Koreander, der einen kurzen Auftritt hat, wird den meisten von uns aus der Unendlichen Geschichte bekannt sein. (Auch wenn er seinen Auftritt der Tatsache verdankt, dass Isau bereits ein Buch über seine Jugend geschrieben hat.) Einer der Führer der Dunklen, Sergej Nekrasow, stammt ebenfalls aus einem anderen Buch Isaus, in dem er jedoch eine eher subalterne Rolle spielt. Die Bücher sind nicht verbunden, trotzdem wird Nekrasows Vergangenheit kurz erwähnt, was die durch die fast perfekte Einbettung in die tatsächliche Geschichte hervorgerufene Illusion verstärkt, es spiele im gleichen Universum – dem einzig möglichen, unserer echten Welt.
Diese Illusion ist es, die ein Phantagon auszeichnet, und mich hat es begeistert.
Fazit: Die Dunklen von Ralf Isau ist ein äußerst lesenswertes Buch. Es gehört zum Genre der Mysterythriller, doch während mich z. B. der bekannteste Vertreter, Illuminati, verloren hat, als Dan Brown anfing, nachprüfbaren Unsinn über CERN zu verbreiten, vermeidet Ralf Isau diesen gängigen Fehler. Seine Geschichte ist gekonnt in die tatsächlichen Geschehnisse des Frühjahres 2005 eingepasst, flüssig geschrieben und hat nur kleine, verzeihbare Längen. Ich habe Isau mit diesem Buch kennengelernt und werde diese Bekanntschaft bei nächster Gelegenheit vertiefen.
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