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Cheri-Bibi
Bewertung:
(3.6)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 01.12.2009
Autor:Autor: Pascal Bertho; Zeichner: Marc-Antoine Boidin
Übersetzer:Monia Reichert
Typ:Graphic Novel – History
VerlagSplitter Verlag
ISBN/ASIN:978-3-86869-020-0
Inhalt:176 Seiten, kleinformatiges Hardcover mit Schutzumschlag
Preis:22,80 EUR
Sprache:Deutsch

Der französische Autor Gaston Leroux (1868 - 1927) dürfte den meisten Lesern sicherlich als Autor des Romans „Das Phantom der Oper“ ein Begriff sein, der auch als Musical und in zahlreichen Verfilmungen umgesetzt wurde. Doch umfasst sein literarisches Werk weitaus mehr als nur diesen Roman und so sind in seinem Heimatland Frankreich die Bücher um den längst legendären Detektiv Rouletabille, der ab 1907 in insgesamt 8 Romanen abenteuerliche und mysteriöse Fälle löste, immer noch in den Verkaufsregalen präsent.

 

Daneben erschuf Leroux 1913 mit „Chéri-Bibi“ eine weitere Serie um den gleichnamigen Helden, in der zwischen 1913 und 1925 drei Romane veröffentlicht wurden (Chéri-Bibi et Cécily, 1913; La nouvelle aurore, 1919; Le coup d' état de Chéri-Bibi, 1925). Der große Erfolg bei der Leserschaft führte bereits 1913 zur ersten Verfilmung des Romans unter der Regie von Gerard Bourgeois, der bis 1955 noch weitere folgen sollten.

 

Nunmehr haben sich zwei junge französische Talente des Comicgenres, Autor Pascal Bertho und Marc-Antoine Boidin als Zeichner und Kolorist, des ersten Bandes der Geschichte von Chéri-Bibi angenommen und eine ziemlich beeindruckende Comic-Adaption erschaffen.

 

Inhalt (Achtung – Spoiler!)

Chéri-Bibi wird in Dieppe als Sohn einfacher Eltern geboren, die für die reiche Reeder-Familie Bourrelier arbeiten. Chéri-Bibi verliebt sich unsterblich in deren Tochter – Cecily – doch eine solche Verbindung ist schlichtweg undenkbar. Und so bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Angebetete heimlich aus der Ferne anzuhimmeln, mit dem Gedanken, ihr niemals seine Liebe gestehen zu dürfen. Doch Chéri-Bibi ist nicht der einzige Mann: Cecily wird vom jungen Polizeikommissar Costaud ebenso umworben wie vom verarmten Marquis Maxim du Touchais, der es allerdings mehr auf die Mitgift von Cecily abgesehen hat.

 

Das Schicksal meint es allerdings nicht gut, als Chéri-Bibi sich in einer dunklen und verregneten Nacht anschickt, den alten Bourrelier vor einem tödlichen Angriff eines Unbekannten in einem langen Mantel retten zu wollen. In dem Handgemenge zur Rettung von Bourrelier ersticht Chéri-Bibi diesen versehentlich und flüchtet. Doch weiteres Unheil lässt nicht lange auf sich warten. Mit seinem Messer, das er am Tatort zurückgelassen hat, wird Maxim du Touchais, der Vater von Maxim, ermordet. Chéri-Bibi wird von Costaud festgenommen und man verurteilt ihn zu einer Haftstrafe im Zuchthaus.

 

Doch hier beginnt eigentlich erst das abenteuerliche Leben um den brutal und grobschlächtig aussehenden Metzger aus Dieppe, dem die Flucht aus dem Zuchthaus gelang, um Rache zu nehmen und seine geliebte Cecily wieder zu sehen, die zwischenzeitlich Maxim du Touchais geheiratet hat – eine Ehe, die schon vor Beginn unter keinen glücklichen Vorzeichen stand.

 

Und so setzt der Comic auf dem Schiff „Estrella“ ein, das verurteilte Sträflinge nach Cayenne, Französisch-Guayana, transportieren soll. Mit an Bord ist der berühmt-berüchtigte Gefangene 3216: Chéri-Bibi. Und dieser hat nichts anderes im Sinn, als einen Aufstand anzuzetteln, um das Schiff in seine Gewalt zu bekommen – was ihm auch gelingt.

 

Und auch hier scheint das Schicksal wieder seine Finger im Spiel zu haben, als sich die Wege der von einem Sturm stark angeschlagenen Luxus-Jacht von Maxim du Touchais und des geenterten Gefangenentransports „Estrella“ kreuzen. Doch Chéri-Bibi hat Zeit für seine Pläne, die sich dem Leser nach und nach enthüllen.

 

Schreibstil & Artwork:

Pascal Berthos (geboren 07.10.1964) erstes Tätigkeitsfeld waren Karikaturen, die er unter anderem in dem Fanzine „Atchoum“ und seiner monatlichen Serie „Tentacule“ veröffentlichte. Dem deutschen Publikum dürfte Bertho insbesondere durch den Comic „Kerioth“ ein Begriff sein, den er ebenfalls gemeinsam mit Marc-Antoine Boidin gestaltet hat.

 

Autor Pascal Bertho hat sich dieses in Deutschland leidlich unbekannten Romans von Gaston Leroux angenommen und das Kunststück geschafft, die wesentlichen Elemente der Handlung für einen Comic aufzubereiten, ohne das der Inhalt der Romanvorlage darunter gelitten hätte – ganz im Gegenteil.

 

Marc-Antoine Boidin wurde am 25. Juli 1974 in Arras im Pas-de-Calais geboren und studierte angewandte Kunst. Er gründete zusammen mit „Isabelle Cochet“, „Nicoby“ und „Laurent Lefeuvre" die Vereinigung „Twin Peaks“, um die Comic-Kunst in Rennes zu fördern.

 

Die Darstellung der Charaktere bei Boidin scheint auf den ersten Blick etwas überzeichnet zu sein, da der vorgebrachte Realismus manchmal ein wenig am kippen ist. Dennoch zeichnet gerade dies auch die einzelnen Figuren aus, da sie hierdurch ein weitaus größeres Maß an Mimik und Gestik eingeräumt bekommen können.

Boidin hat keinerlei Probleme mit den mannigfaltigen und unterschiedlichen Hintergründen, die sich quer durch die gesamte Geschichte von „Chéri-Bibi“ ziehen: Sei es die Darstellung des Dschungels von Französisch-Guayana, das Innenleben des Schiffs auf dem die Gefangenen transportiert werden oder auch nur eine geradezu banale Darstellung einer Straßenszene in Frankreich.

Doch Boidin zeigt sich vielmehr auch als grandioser Virtuose, wenn es um Blickwinkel auf die Geschehnisse geht: Eindrucksvolle und ausdrucksstarke Großeinstellungen wechseln sich mit Einstellungen auf Details ab, so wie der Wechsel von Perspektiven und die Bildung von einzelnen Sequenzen schlicht und ergreifend einfach als hervorragend gelungen bezeichnet werden muss. Auch der Einsatz von Split- und Insert-Panels passt punktgenau zur Handlung - hier erwartet den Leser auf jeden Fall ein ganz großes Fest fürs Auge!

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung

Die ursprünglich in drei Einzelbänden erschienene Reihe von Chéri-Bibi (Band 1: „Fatalitas!“, Band: 2 „Le Marquis“ und Band 3 „Cécily“) sind beim Splitter Verlag in der Sammelband-Reihe „Splitter Books" erschienen.

In Sachen Qualität und Verarbeitung steht die Reihe der kleinen handlichen Splitter Books den großformatigen Alben des Verlags in nichts nach. Die Verarbeitung des Hardcover-Bandes (nebst Schutzumschlag) ist entsprechend ordentlich und man erhält hier direkt drei komplette Alben in einem Band. Die Absicht des Verlages auf diese Weise eine Brücke zwischen Fach- und Buchhandel zu schlagen, scheint langsam aber sicher aufzugehen, zumal dieses günstigere Format auch die Veröffentlichung von „Experimenten“ erlaubt, die sonst so in dieser Form für den Verlag nicht möglich wären.

In Sachen Ausstattung gibt es in diesem Band lediglich ein kurzes Autorenporträt von Gaston Leroux, das sich mit einer knappen Seite begnügt. Hier gab es bei einigen anderen Ausgaben schon wesentlich mehr Extras, was allerdings zu verschmerzen ist. Die tadellose Übersetzung der französischen Texte stammt von Monia Reichert.

 

Fazit

Die Geschichte um Chéri-Bibi erinnert sicherlich den einen oder anderen an den Klassiker „Papillon“ von Henri Charrière und dessen Verfilmung oder aber mit anderen Motiven an Kinoklassiker wie „Flucht von Alcatraz“ oder „Die Verurteilten“. Doch Leroux war hier mehr oder weniger erster seiner Zunft im noch neuen Jahrhundert und prägte mit seinem Roman das Genre vom „unschuldig Verurteilten“. Wie bereits schon zum Ausdruck gebracht, ist es dem Duo Bertho und Boidin eindrucksvoll gelungen, die Roman-Trilogie von Gaston Leroux als Comic-Adaption umzusetzen.

 

Die Geschichte ist dicht erzählt und besticht immer wieder durch ihre eingewobenen Rückblicke auf die Geschehnisse in der Vergangenheit von Chéri-Bibi. Insoweit erwartet den Leser hier keine glatte und lineare Erzählung, sondern eine komplexe Sammlung von Versatzstücken, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Was die Roman-Vorlage von Gaston Leroux allerdings an Schwächen aufzuweisen hat, kann natürlich auch nicht durch Bertho ausgeglichen werden und so wirken manche Geschehnisse in ihrer Abfolge leidlich „konstruiert“, was dieser Adaption aber bei Weitem keinen Schaden zufügt.

 

Hervorragende graphische Unterstützung erfährt die Geschichte durch die absolut passenden und treffenden Zeichnungen von Boidin. Über die Ausgestaltung der Charaktere mag man sich unter Umständen streiten, rutschen mir die Gesichter und die Anatomie der Charaktere manchmal einen Hauch zu stark in Richtung „Funny“ ab, doch dürfte dies insgesamt schon der einzige Kritikpunkt an der graphischen Gestaltung sein.

 

Abschließend kann ich diesen gelungenen Band aus der Reihe der Splitter Books nur wärmstens empfehlen, auch wenn er vielleicht wegen seiner kraftvollen und wunderbaren Zeichnungen eine großformatige Umsetzung verdient gehabt hätte.