Links zur Rezension Inhalt(Vorsicht Spoiler!!!)Juli Zeh reiht sich mit ihrem neuesten Roman bei Autoren wie Aldous Huxley oder George Orwell ein. Sie hat mit Corpus Delicti die Vision einer zukünftigen Gesellschaft erschaffen, die in ihrer Totalität nur „das Beste“ für ihre Bürger will. Corpus Delicti spielt irgendwann im 21. Jahrhundert, vermutlich in Deutschland. Die Gesellschaft hat ihr ganzes Streben auf Gesundheit ausgerichtet. Allerdings ist das Private gleichzeitig zum Staatsanliegen geworden, de facto also abgeschafft. Gesundheit ist nun nicht mehr Angelegenheit des Einzelnen, sondern wird im Interesse der Gemeinschaft überwacht. Ernährung wird nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten normiert, ein bestimmtes Sportpensum vorgeschrieben, selbst Beziehungen werden nach genetischer Kompatibilität gestaltet. In dieser Welt lebt Mia Holl. Mias Bruder Moritz wurde des Mordes und der Vergewaltigung angeklagt und anhand der genetischen Spuren am Tatort „überführt“ (natürlich gibt es von jedem Menschen von Geburt an ein genetisches Profil). In dieser Gesellschaft, die das Leben und seinen Erhalt zum höchsten Gut erklärt hat, gibt es selbstverständlich keine Todesstrafe mehr. Aber so etwas Ähnliches. Moritz wurde dazu verurteilt, auf unbestimmte Zeit eingefroren zu werden. Moritz „entzieht“ sich dieser Bestrafung, indem er sich von seiner Schwester ein Stück Angelschnur ins Gefängnis schmuggeln lässt und sich damit erhängt. Im Laufe des Buches, das immer wieder zwischen Erinnerungen von Mia Holl und der Gegenwart wechselt, erfährt der Leser immer mehr über das Leben der Protagonisten und damit über die Gesellschaft. In Mia und Moritz personifizieren sich zwei Gegensätze. Auf der einen Seite Mia, die Naturwissenschaftlerin, die alles rational erklärt und rational leben will. Andererseits Moritz, der Künstler, der das Leben genießt, Risiken eingeht, auch wenn sie Leben und Gesundheit gefährden. Gleichzeitig wird hier auch der gesellschaftliche Konflikt in diesen beiden deutlich. Der Staat, der diesen beiden Lebenswelten für nicht vereinbar erklärt. Aber Mia und Moritz, so gegensätzlich sie auch sind, lieben sich als Geschwister trotz alledem und gehören auch zusammen. In dieser Situation sieht Mia sich gezwungen, entweder den unleugbaren Tatsachen (genetischer Fingerabdruck) zu glauben, oder ihrer Liebe zu ihrem Bruder und seinen Unschuldsbeteuerungen Glauben zu schenken. In diesem Konflikt entscheidet sie sich letztendlich für ihren Bruder und damit gegen den Staat. Unterstützung erhält sie dabei von einem jungen Anwalt, der aufgrund seiner Liebe zu einer Frau, die nicht genetisch kompatibel ist, ein persönliches Interesse hat, gegen diesen Staat vorzugehen. Gemeinsam können sie auch beweisen, dass der Staat fehlbar ist und Moritz unschuldig war. Damit rühren sie allerdings an die Grundfesten der Gesellschaft. Es entstehen Gegenbewegungen, die z.B. ein Recht auf Krankheit fordern. Dadurch sieht sich die Staatsmacht gezwungen, gegen Mia und ihren Einfluss vorzugehen und sie zu vernichten. Zwar nicht physisch, aber doch gesellschaftlich so vollkommen, dass sie daran zu Grunde gehen wird und dem Staat und seiner Doktrin nicht mehr schaden kann.
Das Buch selbst ist szenisch gehalten. Das heißt, es ist in viele kleine Einzelkapitel unterteilt, die häufig nur knapp eine Seite umfassen. Dadurch erhält das Buch beim Lesen ein unheimliches Tempo, die für mein Empfinden der Geschichte häufig nicht entspricht. Viele Szenen sind Innenbetrachtungen der Akteure, zu denen diese rasante Fahrt dann einfach nicht passt. Unterstützt wird dieser Effekt noch dadurch, dass man als Leser immer direkt in die Situation hineingeworfen wird. Die einzelnen Kapitel fangen immer direkt im Geschehen an, es finden keine Ortswechsel statt, bei denen der Leser mit auf die „Reise“ zum anderen Ort geht, sondern er findet sich immer direkt dort wieder. Sprachlich ist „Corpus Delicti“ nahezu einfach gehalten. Das fördert natürlich den Lesefluss, aber auch hier wird durch die Möglichkeit, das Buch so „runter lesen“ zu können, das Tempogefühl noch gefördert. Falls Juli Zeh diesen Effekt bewusst erzielen wollte, kann ich nicht erkennen, warum sie diesen stilistischen Kniff gewählt hat. Allerdings war dieses Buch auch mein erstes Werk der Autorin. Daher weiß ich nicht, wie sie sonst schreibt.
Fazit:Juli Zeh zeichnet hier das Bild einer Gesellschaft, wie sie entstehen könnte, wenn die Gesundheit bzw. was der Staat dafür hält, zum bestimmenden Element des Zusammenlebens wird. Orwells Dauerkrieg und dessen Mangelzustand wurden durch körperliche Unversehrtheit eine Gesellschaft, der es materiell gut geht, abgelöst. Im Rahmen der aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen erhält „Corpus Delicti“ eine immens hohe Brisanz. Stichwörter seien hier Biometrische Datenerfassung, Verknappung der Ressourcen im Gesundheitswesen, Vorratsdatenspeicherung usw. usf. „Corpus Delicti“ sei all denjenigen empfohlen, die kritische Utopien mögen, basierend auf reale politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Ergänzend sei noch ein Projekt empfohlen: Juli Zeh hat mit der Band Slut eine „Schallnovelle“, wie sie es auf ihrer Homepage nennt, entworfen. Slut hat sieben neue Stücke komponiert und die Autorin liest dazu Textpassagen bzw. hat diese dazu passend neu arrangiert. Auf ihrer Internetseite gibt es dazu Hörproben.
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