Links zur Rezension InhaltTitus ist sieben. Sein Gefängnis: Gormenghast. Gesäugt von Schatten; aufgezogen in einem Gewebe von Riten: Echos für seine Ohren, für seine Augen ein Labyrinth aus Stein und dennoch lebt in seinem Körper etwas anderes als dieses schattenreiche Erbe. Denn zunächst einmal ist er ein Kind.
Das zweite Buch „Im Schloss“ schließt sich den Ereignissen von „Der junge Titus“ unmittelbar an und verfolgt das Heranwachsen von Titus von seinem siebten bis zum siebzehnten Lebensjahr. Als der angehende 77. Graf und der Lord von Gormenghast, fürchtet Titus das Leben der täglichen Rituale, welches ihn unweigerlich erwartet und so sind Barquentine, der Zeremonienmeister, als auch Steerpike die Verkörperung all dessen, was Titus verabscheut.
Ein weiteres Augenmerk liegt auf dem Leben von Titus in der Schule, wo er den Direktor Bellgrove kennen lernt. Während sich die anderen Lehrer der Schule als eine Ansammlung von ziemlich merkwürdige Charakteren mit recht seltsamen Eigenarten herausstellen, die sich zanken, in belanglosen Dingen wetteifern und eigentlich nicht viel mehr als eine Bande von überalterten Schuljungen sind, entwickelt sich die Figur von Bellgrove zu einer Art Vaterersatz von Titus. Auch wenn Bellgrove in vielen Dingen seinen Kollegen in nichts nachsteht, so haftet ihm dennoch eine gewisse Würde und Freundlichkeit an.
Zwischenzeitlich arbeitet Steerpike weiter an seinem Aufstieg und tötet Barquentine, den Zeremonienmeister, um dessen Platz einzunehmen. Doch in seinem Kampf mit Barquentine wird Steerpike selbst schwer verletzt. Wenn auch nicht eindeutig, so verkündet Steerpike auf seinem Krankenbett in seinem fieberhaften Delirium seine bisherigen Schandtaten und indirekt die Morde an verschiedenen Personen im Schloss, die natürlich Dr. Prunesquallor zu Ohren kommen. Insbesondere die Zwillinge Cora und Clarice, die Steerpike in einem abgelegenen Winkel des Schlosses gefangen hält, kommen zu schaden. Unfähig die eingesperrten Schwestern zu versorgen, sterben diese vor Hunger und Durst.
Dr. Prunesquallor nimmt die Äußerungen von Steerpike zum Anlass, um sie mit Lady Gertrude zu sprechen. Sie ist allerdings anderer Meinung über die Bedeutung dessen, was Steerpike scheinbar im Fieberwahn spricht. Allerdings ist das Misstrauen einiger Personen im Schloss geweckt und der langsam wieder genesende Steerpike, von den Brandwunden entstellt, entwickelt eine fast schon krankhafte Furcht von Feuer, während er weiter an seinen dunklen Plänen arbeitet.
Eine wichtige Erfahrung des jungen Titus ist die Begegnung mit einem „wilden Mädchen“, welche in den Wäldern von Gormenghast haust. Titus wird durch ihre freies und ungebundenes Leben inspiriert und schafft es, sie in den Wäldern zu finden. Doch die Begegnung ist nur kurz und recht ernüchternd. Kurze Zeit später wird das Mädchen in einem herannahenden Gewitter vom Blitz getroffen und stirbt. Doch scheint ihre Unabhängigkeit Titus anzuspornen und Mut zu geben, das Schloss zu verlassen.
Der Wachsamkeit des Bediensteten Flay ist es zu verdanken, dass Steerpike letztlich als Verräter und Mörder bloßgestellt wird und die Jagd im riesigen Schloss auf ihn beginnt. Doch Steerpike kennt sich in den zahllosen Gängen und Zimmern des labyrinthischen Schlosses sehr gut aus und ist nicht ohne weiteres zu finden. Und auch anderes Unheil stellt sich ein, da Gormenghast in einem sintflutartigen Regen zu versinken scheint und das Wasser unaufhaltsam steigt, bis es schließlich auch die Mauern des Schlosses hochsteigt.
Über den Autor:Unmittelbar nach seinem Studium an der Universität von Edinburgh meldete sich Dr. Ernest Cromwell Peak 1898 als Arzt für Allgemeinmedizin bei der „London Missionary Society“, die ihn als Arzt nach Hengyang in Zentralchina schickte, wo er gemeinsam mit anderen Ärzten ein Einzugsgebiet betreute, welches fast die Größe Englands hatte. In Kuling lernte Dr. Ernest Cromwell Peak später seine spätere Ehefrau Amanda Elizabeth Ann Peake kennen, die ebenfalls im Missionsdienst stand. Man heiratete und das Ehepaar hatte bereits einen Sohn, Ernest Leslie, als Mervyn Laurence Peake am 09.07.1911 in Kuling zur Welt kommt. Kurz nach der Geburt von Mervyn wird Dr. Peake allerdings die Leitung eines Krankenhauses im 800 Meilen nördlich gelegene Tientsin übertragen und so zieht die Familie nach Tientsin, wo Mervyn später auch die „Tientsin Grammar School“ besuchte.
Es war eine Zeit großer Umbrüche für China, da zu Beginn des 20. Jahrhunderts die herrschende Qing-Dynastie unter ihrem Kaiser Pu Yi in Trümmern lag und sich das Land in zwei große Lager spaltete, zum einen die Gemäßigten, die eine Reform des Kaisertums hin zu einer konstitutionellen Monarchie im Sinn hatten, zum anderen die Revolutionäre, die das Kaisertum endgültig beseitigen und China zu einer Republik machen wollten. Dieser Konflikt sollte noch einige Jahre schwelen und schließlich im chinesischen Bürgerkrieg enden. Es ist in der Gormenghast-Reihe recht offensichtlich, wie Peake die Eindrücke dieses in Ritualen und Traditionen verhafteten Landes, das seine ersten elf Lebensjahre nachhaltig beeinflusst hat, in seine Geschichten einfließen ließ.
Bereits in diesen jungen Jahren bewies Mervyn großes Talent als Zeichner. Zu seinen liebsten Büchern in seinen Jugendjahren zählte er Robert Louis Stevensons Buch „Die Schatzinsel“, die er in Teilen sogar auswendig konnte. Und so dürfte seine Liebe zu Piraten sicherlich noch aus dieser Zeit herrühren. Ende 1922 kehrte die Familie nach England zurück, wo sein Vater damit begann, eine eigene Arztpraxis zu etablieren. Mervyn besuchte das Eltham College in London, welches später ebenfalls in abgewandelter Form Einzug in den Kosmos von „Gormenghast“ hielt. Als Schüler zeigte sich Mervyn überaus achtlos in seiner Rechtschreibung und seinen Examensvorbereitungen, auch wenn er ansonsten als recht gut Sportler durchging. Lediglich der Einsatz seines Kunstlehrers bewahrte ihn allerdings vor einem Schulverweis. Mit dem Lehrer Eric Drake, der das Schulmagazin herausgab und mit seinem Bruder Theaterstücke inszenierte, verband ihn eine gewisse Freundschaft.
1929 erhielt er die Zulassung für die „Royal Academy of Arts“, die er allerdings nach vier Jahren wieder verließ, um dem Ruf seines alten Lehrers Eric Drake zu folgen, der zwischenzeitlich eine Künstlerkolonie auf der Kanalinsel Sark gegründet hatte. Hier arbeitete Peake weiter an seiner Malerei, gab Ausstellungen und schaffte es sogar, die Aufmerksamkeit von Robert Kirkland Jamiesons auf sich zu lenken, der zu dieser Zeit Leiter der Westminster School of Art war. Im Jahre 1935 endete der Lebensabschnitt auf Sark für Peake allerdings erst einmal. Er kehrte nach London zurück und nahm das Angebot von Jamieson an, als Lehrer an der Westminster School of Art zu arbeiten. Hier lernte er die schüchterne Schülerin Maeve kennen, die er mit seiner liebenswürdigen, aber extravaganten Art zu beeindrucken wusste und die er am 01.12. 1937 dann auch heiratete. Ende der Dreißiger Jahre hatte Peake als Künstler eine beachtliche Reputation erreicht: Queen Elizabeth kaufte eins seiner Bilder, Walter de la Mare schätzte seine Gedichte und Dylan Thomas lieh sich sogar Anzüge von ihm. Kurz nach dem Tod seiner Mutter 1939 wurde sein erstes Buch veröffentlicht „Captain Slaughterboard drops anchor“, ein Kinderbuch mit eigenen Texten und Illustrationen. 1940 wurde sein Sohn Sebastian geboren.
Nach dem Kriegsausbruch meldete sich Mervyn bei der Royal Artillery. Allerdings stellte sich rasch heraus, dass der Künstler Peake recht ungeeignet für den Kriegsdienst ist. Rasch folgte der Wechsel zu den „Royal Engineers“, begleitet von häufigen Wechseln in der Stationierung. Zu dieser Zeit begann er „Titus Groan“ zu schreiben und erhielt sogar von seinem befehlshabenden Offizier die offizielle Befreiung, um dieser Tätigkeit nachzukommen. Was zunächst als unsinnige Unterhaltung zwischen zwei aufgeblasenen Trotteln begann, wurde zwar als Skizze von Peake rasch verworfen, enwickelte sich aber nach und nach in die Idee von Gormenghast, die er in den Jahren zwischen 1940 bis 1943 zu Papier brachte.
Als 1942 Peakes zweiter Sohn Fabian zur Welt kam, entfernte er sich mittels gefälschter Papiere von der Armee, um bei Maeve sein zu können, allerdings erleidete er kurze Zeit später einen Nervenzusammenbruch, worauf ein längerer, wenn auch produktiver, Aufenthalt in einem Sanatorium folgte. Im Jahr darauf wurde er aus der Armee entlassen.
Mit der von ihm illustrierten Ausgabe des „Rime of the ancient mariner“ wurde Peake in England als „der größte, lebende Illustrator unserer Zeit“ gefeiert, wohingegen seine Prosa noch einiger Verbesserung bedurfte. So wurde seine Erfassung von „Titus Groan“, die er an den Verlag Eyre & Spottiswoode verkaufen wollte, in seiner Erstfassung als nicht veröffentlichbar abgelehnt. Allerdings ermutigte man ihn zu einer Überarbeitung seines vorgelegten Manuskriptes, da man durchaus das Potential erkannte.
Im Jahr 1945 erhielt Peake die Position eines „War Artist“ und reiste im Rang eines Captains mit dem Reporter Tom Pocock in das vom Krieg zerstörte Deutschland. Allerdings wurde diese Reise bei weitem nicht das erhoffte Abenteuer. Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen kehrte Peake traumatisiert nach England zurück und sollte diese Eindrücke Jahre später in „Titus alone“ verarbeiten.
Nach der Veröffentlichung der Gedichtsammlung „Shapes and Sounds“ im Jahr 1941 und den Nonsensversen „Rhymes without Reason“ 1944 veröffentlichte der Verlag Eyre & Spottiswoode 1946 die von Peake überarbeitete Fassung von „Titus Groan“, der im gleichen Jahr die von ihm illustrierte Ausgabe von „Alice’s Adventures in Wonderland“ folgte. Der Roman „Titus Groan“ wurde von der Presse und dem Publikum mit recht geteilter Meinung aufgenommen.
Die Familie zog abermals auf die Kanalinsel Sark, wo sie ein großes Haus kaufte, welches im Krieg den deutschen Besatzern als Hauptquartier gedient hatte. In dieser Zeit entstand „Gormenghast“ und die Illustrationen zu den Romanen „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1948) sowie „Treasure Island“ (1949) von R. L. Stevenson. Die ständigen Reisekosten von Mervyn zehrten allerdings an dem nicht unbedingt üppigen Einkommen, sodass die Familie nach der Geburt ihrer Tochter Clare 1949 wieder nach London zog, wo Mervyn eine Stelle als Lehrer an der Central School of Art in Holborn annahm.
Das Jahr 1950 stand für Peake ganz im Zeichen der Veröffentlichung von „Gormenghast“ und der Gedichtsammlung „The Glassblowers“, für die er noch im gleichen Jahr von der Royal Society of Literature mit dem W. H. Heinemann Award ausgezeichnet wurde und zweifelsohne mit einer der Höhepunkte seiner Karriere sein dürfte. Ab 1954 arbeitete er an dem dritten Band der Gormenghast-Reihe „Titus Alone“ und bereits 1956 adaptierte die BBC den Roman „Titus Groan“ als Hörspiel. Die finanzielle Situation von Peake hatte sich in den letzten Jahren zusehends verschlechtert und so setzte er große Hoffnungen in das Theaterstück „The Wit to Woo“, welches 1957 seine Uraufführung erlebte. Allerdings waren die Kritiken recht mäßig und auch der gesundheitliche Zustand von Peake verschlechterte sich immer mehr.
In den nächsten Jahren folgte eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser, da Peake wahrscheinlich unter Parkinson litt. Allerdings konnte keine befriedigende Diagnose gestellt werden und zahlreiche unterschiedliche Behandlungen folgen. Ende der sechziger Jahre bekam sein Werk – nicht zuletzt durch den unermüdlichen Einsatz seines Bewunderes Michael Moorcock – größere Bekanntheit, als Mervyn Peake am 17.11.1968 in Burcot, in der Nähe von Oxford verstarb.
FazitGormenghast ist eine starre und scheinbar hermetisch versiegelte Welt, in welche die treibende und zerstörende Kraft des Protagonisten Steerpike am Tage der Geburt von Titus Groan einbricht. Niemand im Schloss scheint seine Intrigen zu durchschauen und mit mörderischer Kraft arbeitet sich Steerpike in seiner Karriere bis ganz nach oben. Würde er nicht handeln, bliebe das Leben auf Gormenghast weiterhin in seinen antiquierten und zum Teil nicht mehr nachvollziehbaren, seltsamen Ritualen und Zeremonien verhaftet, die sich schon seit Jahrhunderten auf die gleiche Weise zugetragen haben. Und so wird zunächst Steerpike zum eigentlichen Protagonisten in diesem Roman, der Gefallen an der scheinbar mühelosen Art findet, mit der er es ihm gelingt seine Pläne umzusetzen und seine Machtgier zu stillen, bis schließlich auch der junge Titus die Bühne des Schlosses betritt und sich mit seinen ganz eigenen Ansichten Steerpike entgegenstellt.
Doch der Weg dahin ist noch weit und Titus ist noch ein zorniger, verwirrter Junge, den es nach Freiheit von der Welt der Symbole und dem Geschmack „echten" Abenteuers in der Welt außerhalb von Gormenghast verlangt. Mit dem zweiten Band wird die Geschichte um das ungleiche Paar von Steerpike und Titus Groan weitergesponnen, wobei sich Steerpike als Emporkömmling selbst in seinen eigenen finsteren Plänen verläuft und es unweigerlich zu einer Konfrontation dieser beiden Figuren kommen muss.
Ein großer Teil der Handlung dieses Buchs umfasst aber auch die Schulzeit des jungen Titus. Fast als hätte er eine diebische Freude an diesem neuen Aspekt in seiner Geschichte, schafft Peake ein überbordendes Universum von so gewaltigen Ausmaßen, dass man sich fragt, wie er es zuvor hat ignorieren können. Auf einmal gibt es eine Schule mit vollbesetztem Lehrkörper und Klassen auf Klassen von Schulkindern, und als Leser fragt man sich zurecht, wo auf einmal die ganzen Schulkinder herkommen, von denen bislang noch nie die Rede war.
Bereits über den ersten Band habe ich geschrieben, Mervyn Peake habe mit seiner Gormenghast-Reihe Bücher geschaffen, die sich nur schwerlich einordnen lassen. Es ist sicherlich ein phantastischer Roman, der jedoch gänzlich ohne Magie oder klischeebehaftete Fantasy auskommt und in seiner Sprache den Leser schier zu überwältigen droht. Er lässt allerdings unzählige Interpretationsmöglichkeiten offen und so kann man sich als Leser einfach nur hervorragend unterhalten fühlen oder aber nach Zeichen und Symbolen suchen, die Peake in mannigfaltiger Form verarbeitet hat.
Sympathisierte man in „Der junge Titus“ noch mit der Gewitztheit und dem Freiheitsstreben von Steerpike, so machen ihn in diesem Band seine Kälte und sein Sadismus mittlerweile nicht nur zum Feind der etablierten Machtverhältnisse in Gormenghast, sondern auch zum Gegenspieler der Figuren, die sich nunmehr als Hauptpersonen und Sympathieträger etabliert haben: Titus, Fuchsia, sowie Prunesquallor und Flay (die zunehmend als Elternersatz für die Kinder fungieren), die sich mittlerweile zusammentun, um dem Wirken von Steerpike in Gormenghast Einhalt zu gebieten.
Die Schilderung der Geschehnisse auf dem Schloss, die in ihrer Art unglaublich skurril und immer wieder bizarr sind, dürften in ihrer Beschreibung wohl einzigartig sein und bleiben auch im zweiten Band beeindruckend. Allerdings muss man sich auf den besonderen Stil von Peake einlassen, wenn man sich auf die Reise macht, zahlreichen unterschiedlichen Bewohner des Schlosses zu entdecken und man Einblick in die manchmal naiven aber auch düsteren Beweggründe, Obsessionen, Ängste und Hoffnungen der Handelnden bekommt.
Was Peake mit der Gormenghast-Reihe erschaffen hat, sucht sicherlich seinesgleichen und ist nicht zuletzt sprachlich in seiner Neuveröffentlichung der durchgesehenen Reihe in der Übersetzung von Annette Charpentier überaus lesenswert. In diesem Band gibt es zudem ein sehr interessantes Vorwort von Tad Williams. Für mich eine absolute und uneingeschränkte Empfehlung – aber Vorsichtig: Mit Sicherheit keine leichte Kost!
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