Links zur Rezension Die Erstveröffentlichung erfolgte auf www.muenster-spielt.de.
Der Nebel hängt schwer über dem nassen Kopfsteinpflaster. Aus der heruntergekommenen Eckkneipe ertönt deutsche Schlagermusik. Eine hagere Gestalt im Trenchcoat duckt sich tief in einen Hauseingang, als ein dunkler Trabbi mit beschlagenen Scheiben langsam die Straße herunterkommt. Rasch huscht sie über die Straße, rennt um zwei Ecken und wird langsamer, als in der Entfernung ein großer Lichtkegel langsam sichtbar wird. Mit einem letzten Blick über die Schulter löst sich die Gestalt aus dem Schutz der mit brüchigem Putz versehenen Häuserwand und geht auf den Lichtkegel zu. Dort schälen sich zwei Gestalten in grauen Uniformen aus dem Nebel heraus: VoPos. Die Anspannung ist der Person anzumerken, als die Volkspolizisten den Passierschein kontrollieren. Mit strengem Blick stellen Sie Fragen, der Mann im Mantel antwortet. Scheinbar widerwillig hebt sich der Schlagbaum, ein Scheinwerfer folgt dem Grenzgänger auf die jetzt zu sehende Brücke dahinter. Die Blicke der VoPos im Nacken betritt er den Beton. Von hinten ertönen der Lärm eines überdrehten Zweitakters, quietschende Bremsen und laute Rufe. Seine Schritte beschleunigen sich. Schwere Stiefel hallen auf dem Beton, ein letzter Warnruf. Er beginnt die S-Draht-gesäumte Brücke hinüberzurennen, während erste schlecht gezielte Schüsse von den Stahlträgern neben ihm abprallen und in die Schwärze der Nacht surren. Ein stechender Schmerz in der Schulter läßt ihn taumeln, fast stürzen. Nur noch ein paar Meter... Die GIs auf der anderen Seite sind aufmerksam geworden, ein Jeep beschleunigt in seine Richtung, Warnschüsse werden abgegeben. Der auf dem Boden knieende Mann wird in das abrupt abgebremste Fahrzeug hineingehoben. „Welcome to Checkpoint Charlie“ begrüßt ihn der diensthabende US-Sergeant und legt krachend den Rückwärtsgang ein. „I invoke code DELAWARE - quickly bring me to the embassy, the world is at risk!“ stöhnt der Passagier, bevor er ohnmächtig wird. Spycraft The 1960s Decade Book
Das 240-Seiten umfassende Hardcover beschwört den Geist des Kalten Krieges herauf, als die Grenzen zwischen Ost und West noch klar umrissen und die Abenteuer schwarz-weiß waren. Es ist das erste einer Reihe von Decade Books, die dem Spycraft-Spieler eine Alternative zu den cinematischen, von Hochtechnologie geprägten Abenteuern der Moderne bzw. des Shadowforce Archer Settings bieten. Das Buch im für Spycraft üblichen Silberglanz ist in acht Kapitel gegliedert. Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Neben einer sehr gut dargestellten Geschichststunde gehen diese Kapitel auf insgesamt 48 Seiten auch auf die Geheimdienstoperationen ein, die Verfahren derer sich beide Seiten bedienten, und den Zeitgeist jener Jahre. Kapitel Drei ist den weiteren Akteuren und Schauplätzen der stellvertretenden Konflikte gewidmet: China, Cuba, DDR, Großbritannien, Vietnam und Westdeutschland. Neben allgemeinen Informationen enthält jeder Teil auch Statistiken für NPCs und Beschreibungen von beispielhaften Schauplätzen wie einem Kriegsgefangenenlager in Vietnam oder einem britischen Atom-U-Boot. Das folgende Kapitel Vier detailliert die großen und kleinen Ereignisse des Jahrzehnts, vom katastrophalen US-Landungsunternehmen in der Schweinebucht über das Kennedy-Attentat und den Sechs-Tage-Krieg bis hin zur Tet Offensive in Vietnam. Jedes dieser Ereignisse ist mit Plot Hooks für Missionen versehen, in die Agenten verwickelt werden könnten. Neu ist dabei das Konzept der „Backdrops“ - je nachdem wie die Ereignisse (evtl. unter Beteiligung der Spieler-Agenten) ausgehen, verändert sich das Klima in der Spionagewelt von „Dienst nach Vorschrift“ bis hin zum allgemeinen „Blutbad“ mit entsprechenden Regelmechaniken. Beim Blutbad z.B. zuckt der Zeigefinger schon mal schneller und alle Seiten können leichter kritische Erfolge beim Umgang mit Waffen erzielen. Mit knapp 15 Seiten fällt Kapitel Fünf eher kurz aus. Es füllt drei alternative Kampagnen-Stile mit Leben und etlichen Missionsideen, Kartenmaterial, NPC’s und „Threats“ - den organisierten Gegenspielern der Agenten also. Eine militärische Kampagne führt beispielsweise in die heißen Dschungel Südostasiens, die Swingin’ Sixties lassen einen auf Charaktere treffen, bei denen man nur auf das „Groovy, Baby“ und „Oh, behave!“ wartet, und die Telefantasy-Kampagne greift die nicht ganz ernst zu nehmenden, meist britischen Serien der 60er auf. Außerirdische, wilde Erfindungen und wenig gesunder Menschenverstand sind hier die Regel. Die Lösung wird aber meist mit Witz und Charme denn mit Waffengewalt erreicht. Ich denke dabei am ehesten an „Die Zwei“. In Kapitel Sechs werden die neuen Regeloptionen vorgestellt. Neben einer Anpassung der regulären Spycraft-Regeln auf die vor allem in punkto Technik und Kommunikationsgewohnheiten sehr unterschiedlichen 60er Jahre werden neue Hintergründe, Charakterklassen, die unvermeidlichen Feats und natürlich Waffen und Gadgets beschrieben. Neue Regeln findet der Spielleiter in Kapitel Sieben. So werden ausführlichere Regeln für die charakteristischen Casino-Abende, das Verführen gegnerischer Agenten (oder Agentinnen), langfristige Kontakte und die Auswirkung von Streß z.B. bei Undercover-Missionen vorgestellt. Zwölf zeitgerechte NPC-Klassen runden das Bild ab. Das Kapitel Acht enthält sechs verschiedene threats, also Missionsbäume für Agenten-Teams unterschiedlichster Stufen inkl. der Statistiken der wichtigsten Antagonisten. Das Kartenmaterial ist durchgängig gut und die Graphiken reichen von ordentlich bis geht so. Fazit: Ich hatte von diesem Buch nichts erwartet. Daher wurde ich von der Aufarbeitung dieser Periode in einem Rollenspielbuch sehr überrascht. Gerade für das Agentengenre sind die 60er Jahre eine wahre Fundgrube - und so nebenbei lernt man noch einiges über den Teil der Geschichte, für die die meisten von uns zu jung sind, die aber im Geschichtsunterricht nicht mehr ausführlich behandelt wurde. Die gesteigerte Spannung entsteht auf einfache Weise: Ein westliches Agententeam hinter dem Eisernen Vorhang muß ständig aufpassen, daß es nicht auffliegt. Je nach Brisanz der Mission ist nicht nur diese und der Weltfrieden gefährdet, die Charaktere selbst müssen damit rechnen, nie wieder gesehen zu werden. Wie bereits in Gentleman’s Agreement vorgemacht, bietet sich ein Crossover mit dem kontemporären Spycraft an: Weit zurückliegenden Geheimoperationen gegen mysteriöse Gegner, die Auswirkungen auf die Gegenwart haben erzählt der Spielleiter nicht mehr, man spielt sie mit entsprechend hartgesottenen Charakteren einfach.
Fazit: Für Spycraft-Einsteiger wäre das 1960s Decade Book eine echte Alternative zum überdrehten Shadowforce Archer Setting. Mein Eindruck: Sehr gut!
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