Links zur Rezension Inhalt:Der vorliegende vierte Band der Moebius-Collection enthält eine Reihe von Kurzgeschichten, die in den Jahren 1976 bis 1978 entstanden sind. Und so kann sich der Leser auf „Die blinde Zitadelle“, „Delma“, „Ballade“, „Absolute Kontrolle“, „Der Apfelkuchen“, „Albtraum in Weiß“, „Weihnachtserzählung“ und „Ktulu“ freuen.
Die blinde Zitadelle Ritter Tornsock ist seit sieben Monaten im Land unterwegs, ohne eine lebendige Seele zu treffen. Umso erstaunter ist er, als er mitten im Wald auf eine steinerne Festung trifft, die aus einem einzigen Felsblock gearbeitet ist. Von einem Elf erfährt er, der Felsblock sei vom Himmel gestürzt und über tausende von Jahren hinweg formte ihn das Waldvolk zu einer mächtigen Burg, in der später ein stolzer und eifersüchtiger König herrschte und seine Gemahlin in der höchsten Spitze der Burg versteckte. Abends am Lagerfeuer schläft Tornsock ein und beginnt von der Festung zu träumen.
Delma Mehr ein Intermezzo, als eine regelrechte Kurzgeschichte, in der es die Protagonistin auf einer Reise in ein Heiligtum verschlägt, von wo aus sie sich ihrem weiteren Schicksal und dem Mann mit der Maske stellen möchte.
Ballade Eine junge Reisende reitet durch den Bio-Forst und liest dabei laut aus einem Buch des Schriftstellers Rimbaud. So etwas bleibt nicht unentdeckt und so macht sich Loona an die Verfolgung des „Küken vom großen Berg“, das mit seinem Dingdongs als Reittier sich anschickt, auf einer großen Reise den Ozean im Westen zu erreichen. Trotz aller Skepsis schließt sich Loona nach einem langen Gespräch ihrer neuen Freundin an und in der Savanne begegnen sie plötzlich Menschen und Märchenmaschinen.
Absolute Kontrolle Über mehrere Seiten hinweg kann der Leser dem Fall eines Menschen folgen, der in geradezu klassischer Moebius-Manier durch unterschiedlich gestaltete Panels rauscht und allerlei seltsamen Dingen und Umgebungen bei seinem schier unendlichen Fall in die Tiefe begegnet.
Der Apfelkuchen Auf vier Seiten gelingt Moebius das Kunststück, die erotischen Phantasien eines jungen Mädchens und ihr Verhältnis zu ihrem älteren Bruder in faszinierenden Bildern auszuleben, um allerdings auch nicht das Ritual des Apfelkuchens zu vergessen, den es jeden Dienstag gibt.
Albtraum in Weiß Rassisten, die in einer nächtlichen Irrfahrt durch eine Stadt an Bürger geraten, die sich gegen dumpfe rechte Parolen wehren und augenzwinkernd Zivilcourage zeigen, als es um die Verfolgung eines Arabers geht, sind ein Alptraum für Georges Barjout, den Anführer einer Clique, die sich anschickt Ausländer und andere Mitmenschen mit seiner irren Gedankenwelt zu drangsalieren. Aber was ist eigentlich wirklich der Alptraum und was Realität?
Weihnachtserzählung In der gesamten Galaxis gab es kein aufregenderes Wild, als das Lippon von Barascaipoe, das sich zu jagen lohnt. Insbesondere wenn Weihnachten kurz bevor steht und es unbedingt ein Weihnachtsessen mit geröstetem Lippon geben soll. So machen sich zwei Jäger auf den Weg im Kampf gegen die Zeit, um den Spuren von Lippons zu folgen. Allerdings haben sie nicht mit einer Änderung im Verhalten der Lippons gerechnet und Weihnachten wird sich zukünftig anders gestalten.
Ktulu Der Präsident beeilt sich, die letzte Sitzung der Minister-Runde vor den Osterferien so schnell wie möglich zu beenden, um dann in den Tiefen des Palastes zu verschwinden, wo er in den unteren Bereichen zu einem Portal gelangt, welches ihm den Weg in eine andere Welt eröffnet, wo er auf die Jagd gehen möchte.
Schreibstil & Artwork:Der 1938 in Nogent-sur-Marne (in der Nähe von Paris) geborene Zeichner Jean Giraud, der dem Publikum eher unter seinem Künstlernamen Moebius oder auch Gir bekannt sein dürfte, veröffentlichte nach dem Studium der angewandten Kunst an der Académie des Beaux-Arts in Paris 1956 seinen ersten Comic in Magazin „Far West“. Der eigentliche Durchbruch begann allerdings erst 1963, als er für das Jugend-Magazin „Pilote" die Westernserie „Blueberry“ (dt. „Leutnant Blueberry“) nach einem Szenario von Jean-Michel Charlier zeichnete. Während Jean Giraud klassische Western-Abenteuer mit „GIR" signierte, zeichnet er unter dem Pseudonym „Moebius" humoristische und extravagante Comics für Erwachsene.
1975 war Moebius Mitgründer des Verlages "Les Humanoïdes Associés" und des Comic-Magazins "Métal Hurlant" („Schwermetall", „Heavy Metal"). 1980 startete er die skurrile Science-Fiction-Serie John Difool (Text von Jodorowsky). Giraud und Jodorowsky lernten sich kennen, als dieser an der Vorbereitung für die Verfilmung des Romans „Der Wüstenplanet“ von Frank Herbert arbeitet. Auch wenn dieses Projekt an einigen recht lustigen Details scheiterte (mehr dazu im Anhang des vorliegenden ersten Bandes der Reihe), entwickelten beide 1978 gemeinsam den Comic „Die Augen der Katze“ und begannen dann zwei Jahre später für das französische Magazin „Métal Hurlant“ mit der SF-Reihe „John Difool“, die es bis 1989 letztlich auf sechs Bände brachte und rasch Kult-Status erreicht.
Er arbeitete auch an Filmen wie „Tron“ und „Das fünfte Element“ mit, denen er ein zum Teil ganz typisches und unverwechselbares Design gab. Daneben entstanden aber auch zahlreiche andere Comic-Stories, zu denen unter anderem „Jim Cutlass“, „Le garage hermétique“ (dt. „Die hermetische Garage“) oder aber die 6-teilige Science-Fiction-Comicserie „Le monde d'Edena“ (dt. „Die Sternenwanderer“) gehören.
Als Multitalent arbeitete er aber auch für die Werbebranche und zeichnete unter anderem Kampagnen für den französischen Schuhhersteller Eram, Citroën und BMW. Nach Aufenthalten in Japan und Los Angeles lebte Giraud seit der Trennung von seiner ersten Frau und der Heirat mit Isabelle Champeralle 1988 wieder in Frankreich. Am 10. März 2012 verstarb Jean Henri Gaston Giraud, genannt Moebius im Alter von 73 Jahren an Lymphdrüsenkrebs.
Sinnigerweise gibt es in diesem Band ein Vorwort von Moebius, der einige interessante Aspekte zur Entstehung und den Hintergründen seiner Kurzgeschichten erläutert. So ist beispielsweise die Idee zu „Die blinde Zitadelle“ dem Umstand geschuldet, sich intensiv mit der Arthus-Sage beschäftigt zu haben, die eine Zeit lang im Freundeskreis von Moebius recht angesagt war. Allerdings führt Moebius aus, er könne eigentlich nicht anders zeichnen und Szenarien erschaffen, wie er es in der vorliegenden Form gemacht hat – halt einfach Moebius. Ebenso wie der Seitenhieb auf die Tagespolitik in „Ktulu“, in der Moebius sowohl dem Mythos-Wesen des amerikanischen Schriftstellers H.P. Lovecraft huldigt, als auch die Tagespolitik verarbeitet, als bekannt wurde, das der französische Staatspräsident Giscard d’Estaing in Zaire und in der Zentralafrikanischen Republik als Jagdherr auf die Pirsch gegangen ist, weil dort die Jagd für Normaljäger unerschwinglich geworden ist. Aber auch eine Geschichte wie „Absolute Kontrolle“, die gänzlich ohne Dialoge auskommt und nur durch die Kraft ihrer Bilder und Farben lebt, gibt dem Leser den letzten Panels augenzwinkernd eine Antwort.
Zeichnerisch tobt sich Moebius aus, auch wenn er fast gänzlich der traditionellen Anordnung von Panels verpflichtet ist. Ihn zeichnet der absolut überzeugende Blick für die richtige Perspektive und die Anordnung seiner Figuren und phantastischen Landschaften aus. Egal ob mit viel Liebe zum Detail ausgearbeitet oder aber fast skizzenhaft zu Papier gebracht, zeigt sich immer ein herausragendes Können in der visuellen Gestaltung.
Qualität, Ausstattung & Übersetzung:Der Verlag Cross Cult schickt sich an, eine auf sieben Bände konzipiert Moebius-Collection auf den Markt zu bringen, die als gebundene Hardcoverausgaben in identischem Design und Format erscheinen und die einflussreichsten Episodencomics, die den Namen und Ruf von Moebius als Comicikone begründeten, nach sage und schreibe 20 Jahren erstmals wieder lieferbar machen.
Auch der vierte Band der Reihe kann sich sehen lassen, sowohl was die Verarbeitung als auch das Material angeht. In Sachen Ausstattung gibt es ein überaus informatives Vorwort aus der Feder von Moebius, der dem Leser seine Gedankenwelt erläutert und somit zwar ein wenig die kryptischen Kurzgeschichten entzaubert, aber auf der anderen Seite sehr viel zu deren Verständnis beiträgt. Gerne hätte ich noch einige editorische Notizen zur Erstveröffentlichung der Kurzgeschichten gesehen, aber das ist dann auch schon jammern auf recht hohem Niveau. Die tadellose Übersetzung stammt wiederum von Rossi Schreiber und lässt sich überaus angenehm lesen.
Fazit:Mit dem Wissen des Vorwortes von Moebius kann sich der Leser getrost auf den Rausch von Farben, Formen und Dialogen des Bandes einlassen, gibt es doch diesmal für die Reisen, Geschehnisse und diversen Abenteuer Sinndeutungen oder zumindest Erklärungsansätze. Natürlich nutzt Moebius die kurzen Geschichten aus um mit seinem Zeichenstil und Erzähltechniken zu experimentieren, doch überlastet er damit den Leser bei weitem nicht so stark wie vielleicht in anderen, längeren Publikationen. Zwar gibt es hier sicherlich etliche Fragen, die sich in den surrealen Welten dem Leser zweifelsohne auftun, aber auch hier gilt, das man sich auf das Universum einlassen sollte, zu dem Moebius dem Leser die Tür öffnet.
Wer „Arzach“ und „Die hermetische Garage“ als Comic schätzt, der dürfte von diesem Band mit Sicherheit ebenso begeistert sein, wie ich es bin. In diesen kurzen Geschichten, ausgearbeitet auf nur wenigen Seiten, bringt Moebius grandiose Einzelstücke zu Papier, mit denen andere Autoren oder Zeichner vielleicht ganze Alben gefüllt hätten. Für mich auf jeden Fall eine Empfehlung, die in keinem Comic-Regal fehlen darf und vielleicht auch Einsteigern einen Zugang in die manchmal recht verwirrende Gedankenwelt des Franzosen ermöglicht.
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