Inhalt:Der 10. Band der Werkausgabe beinhaltet die beiden Erzählungen „Zu schaun die Sterne" und „Die Odyssee des Giuseppe Bergmann" und schließt vorerst den Zyklus um Giuseppe Bergmann inhaltlich ab:
Zu schaun die Sterne Giuseppe Bergmann befindet sich zu Beginn der Geschichte an einem recht düsteren und finsteren Vorort, bei dem es sich um eine Kulisse aus Fellinis Film „La Voce della Luna“ handelt. Hier schließt er die Bekanntschaft mit einer jungen Frau, die er von einem sterbenden Aids-Kranken anvertraut bekommt. Die Frau scheint Bergmann für Lucignolo, eine Figur aus Carlo Collodis „Pinocchio“ zu halten und so macht sich Bergmann, nach einigen anfänglichen Schwierigkeiten, dem Wunsch der Frau folgend, mit ihr auf den Weg ins „Spielzeugland“.
Allerdings hat Giuseppe Bergmann bereits vor dieser Reise ein gravierendes Problem entdecken müssen: Die junge Frau trägt beständig einen reich illustrierten Band der Kunstgeschichte mit sich, der mehr oder weniger ein nacktes Sittengemälde alter Bilder und Zeichnungen voll opulenter Schönheit ist und die Frau beim lesen immer dazu verleitet, sich ihrer Kleidung zu entledigen und die Bilder vor ihrem imaginären Auge nachzuempfinden. So ist Bergmann mehr als einmal auf ihrer Reise damit beschäftigt die lesefreudige und rasch entkleidete Frau aus mehr oder weniger unschicklichen Situationen zu retten, insbesondere als sie sich dann in der großen Stadt, dem vermeintlichen „Spielzeugland“, befinden und sie sich auf die Suche nach Pinochio macht um dabei unversehens in die Hände von Kater und Fuchs zu geraten.
Bei der Veranstaltung einer politischen Partei im Spielzeugland (bei der Manara recht eindeutig auf die Partei von Berlusconi anspielt) werden beide wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses von der Polizei festgenommen, da die junge Dame nackt durch das Bankett der geladenen Gäste läuft. Wieder auf freiem Fuß hat Bergmann keine Ahnung über den Verbleib seiner Begleitung. Einzig Botticellis einige Illustrationen zu Dante Alighieris „Inferno“ sind es, die ihn nach Cinecittà, dem italienischen Hollywood in der nähe von Rom, führen, wo die junge Frau einiges über die tatsächlich existierenden Hölle auf Erden erfahren muss und sich durch diesen Eindruck für den Freitod entscheidet. Aber da ist noch Giuseppe Bergmann und dessen Gespür für das andere Leben und selbst der Leser spielt eine entscheidende Rolle in einem denkwürdigen Finale in diesem äußerst untypischen Comic.
Die Odyssee des Giuseppe Bergmann Als Schiffbrüchiger wird Giuseppe Bergmann in ägischen See von einer ungewöhnlichen Schiffmannschaft gerettet, die aus einem überaus charmanten weiblichen Skipper besteht, dem die Aufgabe zufällt, einen alten Professor, der sich für den neuen Odysseus hält und gemeinsam mit einer jungen Frau, die ihm als Hermaphrodit verkleidet ist, nach Ithaka zu bringen. Es scheint jedoch, als würde Bergmann ebenfalls das Schicksal zufallen, auf den Spuren von Odysseus zu wandeln, der scheinbar in geisterhafter Form sein erstes Schiff gerammt hat und nun wiederum auch das neue Boot nur mit knapper Not verfehlt. Niemand mag Bergmann seine Erscheinung recht glauben, doch der Professor zeigt sich begeistert von dem „Wahrsager“, der in ihm zu stecken scheint und ernennt ihn kurzerhand zu seinem Teiresias, der ihn auf seiner Reise begleiten soll.
Die zweite Begegnung mit Odysseus, der Bergmann wie in einer Vision erscheint, bringt ihm den Helm des Helden ein, der es ihm ermöglicht, all die Dinge zu sehen, die einstmals Odysseus durch ihn gesehen hat. Durch einen dummen Zufall fällt dieser Helm aber über Bord und auch der Skipper schenkt ihm keinen großen Glauben.
Die erste Etappe der prophetischen Reise führt die Reisenden in das Land der Lotphagen, doch die Insel entpuppt sich als Treffpunkt für ein Biker-Treffen, an dem reichlich Alkohol und Drogen konsumiert werden und auch sonst recht große Sinnesfreude herrscht. Die Reden des Professors gegen die Zügellosen Ausschweifungen auf der Insel führen fast zu einer handfesten Auseinandersetzung, welche nur durch eine rasche Flucht zurück auf das Boot entgangen werden kann. Jedoch bleibt der Hermaphrodit auf der Insel zurück, da die Biker diesen kurzerhand kidnappen. Unterdessen hat Bergmann, der auf dem Schiff zurückgeblieben ist, eine Erscheinung von Elpenor, einem Mitglied aus der Mannschaft von Odysseus, der ihm seinen Helm anbietet, um zumindest aus seiner Sicht die Abenteuer seines Herrn zu folgen. Den Plan den entführten Hermaphrodit von der Insel zu retten, müssen die Gefährten zunächst verschieben, da nachts ein Sturm aufkommt.
Zwar kann Bergmann in den Besitz des Helmes von Elpenor kommen und erhält in seiner folgenden Vision von Aiolos einen Sack, in dem alle Winde der Welt gefangen sind, doch auch der Skipper scheint neugierig auf die Wirkung des Helmes zu sein. Auch bei dem Skipper funktioniert der Helm und so sieht sie die Mannschaft von Odysseus an zahlreichen Orten ihrer Fahrt, sieht den göttlichen Carybidis, die Felsen der Sirenen und folgt Odysseus bis in den Hades. Allerdings hat sich der Helm auf dem Kopf des Skippers verklemmt. So hat Bergmann alles Hände voll zu tun, das Boot auf Kurs zu halten und vor weiteren Schäden zu schützen, zumal sich wohl auch der Zorn Poseidons einstellt. Und so führt die Reise weiter auf hoher See, doch gibt es sowohl für den Professor als auch für Bergmann ein überaus versöhnliches Ende auf dieser vorerst letzten Reise des Protagonisten.
Schreibstil & Artwork:Milo (eigentlich: Maurilio) Manara wurde am 12.09.1945 in Lüsen, einem Ort nahe Bozen in Südtirol, geboren und gehört heute unumstritten zu den weltweit renommiertesten Comic-Künstlern, obwohl er als Zeichner für Comics erst in den späten 60er Jahren in Erscheinung getreten ist. Mit regelmäßigen Zeichnungen für zwei in Italien sehr populäre, zum Teil pornografische Comicmagazine des Genres „fumetti neri“ (ital.; zu Deutsch „schwarze Comics“) finanzierte er zwischen 1968 und 1971 sein Architekturstudium an der Universität in Venedig. Sein Erstlingswerk „Genius“ aus dem Jahr 1969 ist der erste Schritt in eine außergewöhnliche Comic-Karriere. Zwischen 1971 und 1973 zeichnete er die billig produzierte erotische Piratenstory „Jolanda de Almaviva“ und fertigte etliche Comicstrips für die italienischen Magazine „Telerompo“ und „Corriere dei Ragazzi“.
Der Durchbruch gelang Manara 1978 mit seiner Comicadaption des chinesischen Literaturklassikers „Der Affenkönig“, dem in unregelmäßigen Abständen ab 1978 die nach den Vorlagen von Hugo Pratt und Federico Fellini geschaffene Reihe um die Figur des Giuseppe Bergmann folgte. Sein besonderes Faible für Erotik (gemischt mit gediegenem Humor) führte Manara 1983 in der Reihe „Click!“ fort. Weitere internationale Erfolge stellten sich allerdings auch ein – so erschienen beispielsweise „Mann aus Papier“, „Der Schneemensch“, „Candid Camera“ oder aber Ende der 90er Jahre „Kamasutra“. Zu den Höhepunkten seines Schaffens im Bereich des anspruchsvollen erotischen Comics dürften zweifelsohne „Außer Kontrolle“ und „Der Duft des Unsichtbaren“ gehören.
In den 80er-Jahren begann Manara damit, verstärkt mit anderen großen Künstlern wie Hugo Pratt, Federico Fellini oder aber auch Luc Besson zusammenzuarbeiten. Gemeinsam mit Pratt schuf er die beiden Bände „Ein indianischer Sommer“ und „El Gaucho“, mit Fellini entstanden „Die Reise nach Tulum“ und „Die Reise des G. Mastorna, genannt Fernet“. Doch Manara zeigt sich auch in anderen Genres recht umtriebig. So schuf er mit dem französischen Regisseur Luc Besson zwei Werbespots für die Parfum-Marke „Chanel No. 5“, arbeitete an der Visualisierung verschiedener Spots für Autofirmen mit oder schuf CD-Cover für diverse Interpreten. Seine Leidenschaft für das Medium Comic ist jedoch ungebrochen. Zu seinen letzten Arbeiten gehört die gemeinsam mit dem Szenaristen Alexandro Jodorowsky entstandene historische Comic-Reihe „Die Borgia“, die zwischen 2006 und 2010 auf deutsch bei „Kult Editionen“ erschien und der Band „X-Men – Frauen auf der Flucht“, den er mit Chris Claremont, dem wichtigsten und einflussreichsten Autor in der Geschichte von Marvels X-Men, schuf.
Während einige Szenarien von Manara manchmal knapp an der Grenze zur Pornographie wandeln, so zeigt Manara in dem Szenario „Zu schaun die Sterne" wie durch die Interaktion und den Medienwechsel von Comic und Malerei tatsächlich ein moderner Kunstführer im Medium des Comics entstehen kann und überdies noch reichlich Platz für die eigene Interpretation des Lesers bleibt. Mit seiner Ausgestaltung bleibt er dem erotischen Genre, das ihn bekannt und (erfolg)reich machte treu, wodurch natürlich auch die Wahl mancher Sujets vorbestimmt ist. Wenn man allerdings an die nicht abreißend wollende Debatte rund um den Stellenwert von Comics und dessen Verhältnis zur Kunst denkt, so dürfte man dieser hinreißend elegant erzählten Geschichte eine gewisse Anerkennung zusprechen, nimmt sie doch Elemente aus Film, Politik und Geschichte in sich auf, ohne die gnadenlose Gegenwart zu leugnen und letztlich doch für die eigentliche Protagonistin, die vom Helden wider Willen, Giuseppe Bergmann, begleitet wird, einen erstaunlichen Ausgang hat.
Ganz anders hingegen präsentiert Manara seinen vermeintlich männlichen Protagonisten in „Die Odyssee des Giuseppe Bergmann“, in der das Heldengedicht „Die Odyssee", welches zu den ältesten Dichtungen der abendländischen Literatur gehört und die Geschichte von Odysseus, dem König von Ithaka erzählt, der zehn Jahre tapfer und listig um Troja kämpft und dann zehn Jahre auf seiner Heimreise durch das Mittelmeer kreuzt. Bei dieser Irrfahrt muss er viele Abenteuer bestehen, bei denen er sich immer wieder durch seine besondere Klugheit und List auszeichnet.
Betrachtet man das Szenario von Manara, so nimmt er sich der Deutung an, Odysseus sei letztlich kein Abenteurer, sondern einer, der dazu verschlagen wird. Odysseus besitzt nicht den Drang, Gewaltiges zu erleben, nicht die unbändige Lust an der Gefahr. Er ist kein Herumtreiber, sondern vielmehr ein Herumgetriebener. Und so ähnelt er auf fast schon ideale Art und Weise Giuseppe Bergmann, der diesem von der Ausgestaltung seiner Charakteristika in nichts nachsteht. Auch ihn verschlägt es immer wieder unversehens in Abenteuer, die er mehr oder weniger „übersteht“. So ist die Reise von Bergmann, der unversehens auf den Spuren von Odysseus reist, eine gekonnte Inszenierung von Realität und mythenbeladener Fiktion, die sich mit dem gehörigen Funken Erotik vor dem Auge des Lesers entfaltet.
Zeichnerisch gehört „Zu schaun die Sterne“ nicht zu den von Manaras aufwendig kolorierten Werken, sondern ist „nur" in Grautönen gehalten, jedoch macht er dies überaus gekonnt und präsentiert dem Leser eine erstaunliche Vielzahl von Kunstobjekte aus verschiedenen Epochen, präsentiert verschiedene Charaktere und weiß mit seinem feinen, aber dennoch markant-präzise Strich auch die zahlreichen nackten Frauenkörper geschmackvoll in Szene zu setzen. Anders hingegen die angenehm und fast durchgehend realistische Darstellung der Protagonisten in „Die Odysse des Giuseppe Bergmann“, deren Panels eine gewisse Leichtigkeit inne wohnt. Ein klassischer Seitenaufbau mit wenigen experimentellen Ansätzen, nebst einer vortrefflichen Farbgebung, welche das griechische Flair von Land und Meer einfängt, schmeicheln dem Auge des Lesers. Hier stimmt von der Perspektive über die Einstellung bis hin zur Hintergrundzeichnung alles und beweist erneut den hohen künstlerischen Anspruch, den Manara an seine Bilder hat.
Qualität, Ausstattung & Übersetzung:Auch der zehnte Band der Werkausgabe erscheint als stattlicher Hardcoverband von 144 Seiten, den ein passender Schutzumschlag mit einer Collage von G. Bergmann nebst der Protagonisten des ersten Abenteuers ziert. Aber auch unverhüllt ist dieser Band recht hübsch anzuschauen, befindet sich doch unter dem Schutzumschlag ein in geschmackvollem Rot gehaltener Hochglanzband, den die Rückenansicht eine leicht bekleideten Dame ziert, wie man sie aus dem Oeuvre von Manara kennt. Wie bereits bei den anderen Bänden Reihe macht den ein überaus kurzweiliges Vorwort, welches sich mit den Hintergründen der Entstehung, zusätzlichen Informationen als auch Deutungsversuchen der Szenarien beschäftigt und einigen zusätzlichen Bildern garniert ist.
Als Bonus gibt es am Ende des Bandes noch das Portfolio Nr. 4 „Zu schaun die Sterne und mehr“ von Manara, welches vornehmlich mit kolorierten Entwürfen aufwarten kann, die sich auf die Geschichte „Zu schaun die Sterne“ beziehen. Allerdings gibt es auch noch einige andere Bilder zu entdecken, die keinen konkreten Bezug zu Bergmann haben, jedoch wieder einmal die kreative Bandbreite von Manara unter Beweis stellen.
Fazit:Während es bei einigen der Szenarien des Giuseppe Bergmann vornehmlich um den Zeitgeist der 70er-und frühen 80er-Jahre geht, dreht sich diesmal alles um einen intellektuell recht anspruchsvollen Blick in die Kunstgeschichte oder aber auch die Welt der griechischen Mythologie und Sagenwelt, bei deren Umsetzung sich Manara eines strikten Stilpluralismus bedient, in dem das Abtauchen ins Unerwartete forciert wird und dem Leser einiges abverlangt wird. Sicherlich auf eine Hommage auf seinen verstorbenen Freund Hugo Pratt, der sich mehrfach in „Zu schaun die Sterne“ wiederfindet, liefert Manara hier eines seiner ganz großen Werke.
Leider nimmt damit vorerst aber auch das abenteuerliche Leben von Giuseppe Bergmann ein Ende, dem Manara mit der Reise durch die griechische Sagenwelt einen vorerst würdigen Abschluss gibt. Selbst zum Schluss des Szenarios von „Die Odyssee des Giuseppe Bergmann“ bleibt Manara augenzwinkernd seinem Metier treu, als Bergmann die Hose des Skippers kritisiert, die diese am Ende wieder trägt. Da sie den größten Teil des Abenteuers nackt war, könnte sie doch die Hose wieder genauso tragen, so zumindest die Frage von Giuseppe Bergmann.
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