InhaltDieses „Handbuch“ richtet sich in erster Linie an Rollenspieldesigner und solche, die es werden wollen. Aber auch Spielleiter werden einige der Artikel interessant finden. Der Begriff „vollständiges Handbuch“ ist hier etwas irreführend: Wer einen systematischen Überblick über alle Bereiche des Spieldesigns oder eine Schritt-für-Schritt-Anleitung erwartet, wird enttäuscht sein. Vielmehr handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen zu verschiedensten Aspekten von Rollenspieldesign. Der Originaltitel „Complete Kobold Guide to Game Design“ ist da etwas weniger irreführend. Ah, die Übersetzung...
Damit kommen wir gleich zum schlechtesten Teil: Die Übersetzung ist leider nicht gut gelungen. Das beschränkt sich leider nicht nur darauf, dass an vielen Stellen die Satzstruktur einfach aus dem Englischen übernommen oder Idiome unnötigerweise nicht ins Deutsche übertragen wurden, wodurch der Text oftmals einfach nicht schön zu lesen ist. Denn leider wurden auch einige Begriffe schlichtweg falsch übersetzt, was teilweise den Sinn entstellt – was etwa mit Nüssen und Bolzen wirklich gemeint war, erschließt sich nur durch Rückübersetzung! Absolut unverständlich ist zudem, dass einige D&D-Fachbegriffe nicht den offiziellen Übersetzungen entsprechen. So ist an einer Stelle von „Untote Umdrehen“, an einer anderen vom Zauber „Magisches Glas“ (gemeint war Magic Jar) die Rede. So etwas sollte einfach nicht durchs Lektorat kommen. Zum Glück bleiben derlei Aussetzer recht selten, so dass der überwiegende Teil der Aufsätze zumindest gut verständlich bleibt.
Doch genug zur Übersetzung, kommen wir zum Inhalt. Halt, vorher noch zur Form: Das Buch schmückt eine generische Fantasy-Illustration, dahinter verbergen sich 244 Seiten Text, von denen nur eine handvoll eingestreuter Kobolde ablenken. Gut so, allzu viel Kunst würde hier nur vom Inhalt ablenken und den Preis in die Höhe treiben. Zur Druckqualität kann ich nichts sagen, da mir nur ein PDF vorlag. Insgesamt gibt es 40 Artikel, von denen etwa zwei Drittel von Wolfgang Baur stammen, der Rest von anderen „Design All-Stars“: Colin McComb, Rob Heinsoo, Michael A. Stackpole, Ed Greenwood, Keith Baker, Nicolas Logue, Willie Walsh, Monte Cook, sowie die Redakteurin Janna Silverstein. Die Texte sind in drei Bereiche aufgeteilt: Der Teil Spiel Design (sic!) befasst sich mit dem Entwurf ganzer Rollenspielsysteme inklusive Mechanik, Magiesystem und Weltendesign. Der Teil Abenteuer Aufwerten beschäftigt sich mit dem Entwurf von Abenteuern und der Teil Schreiben, Präsentieren, Veröffentlichen beinhaltet vor allem Aufsätze zum kreativen Prozess und der Zusammenarbeit mit Verlagen. Ein Index fehlt, ich habe ihn aber auch nicht sehr vermisst.
Was steht nun drin? Wie schon erwähnt gibt es keinen roten Faden und keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr handelt es sich hier um eine Sammlung von Aufsätzen, die fast alle ursprünglich in Baurs schwarmfinanzierten Projekten Open Design und Kobold Quarterly erschienen waren. Eine über die bloße Zusammenstellung hinausgehende Bearbeitung dieser Artikel konnte ich nicht erkennen. Das ist an einigen Stellen leider schmerzlich erkennbar, weil hier und da durch fehlenden Kontext das Verständnis leidet.
Ein kurzer Exkurs: Open Design, das später zu Kobold Press wurde, war ein Projekt, das 2006 startete und für seine Abonnenten Artikel zum Thema Rollenspiel heraus brachte sowie einige Abenteuer, wie etwa Blood of Gorgon, Castle Shadowcrag, Courts of the Shadow Fey, Empire of Ghouls, Six Arabian Nights und Streets of Zobeck. All diese Projekte werden in den Artikeln vielfach erwähnt. Leider sind sie aufgrund des Finanzierungsmodells fast alle nicht mehr für die Öffentlichkeit erhältlich. Das ist umso bedauerlicher, weil diese in einigen der Artikel des Handbuchs referenziert werden, ohne dass man genau weiß, wovon eigentlich die Rede ist. Kobold Quarterly war übrigens der direkte Nachfolger der D&D-Magazine Dungeon und Dragon und daher ist es auch nicht überraschend, dass einige Artikel einen engen Bezug zu D&D in all seinen Inkarnationen haben. Dennoch ist fast alles auch auf andere Systeme übertragbar.
In den Aufsätzen wird eine Vielzahl von Themen angerissen: Im ersten Teil sind das die wichtigsten Aspekte von Rollenspieldesign, die Unterschiede von Computer- und Tischrollenspielen, der kreative Prozess, die Bedeutung von Testrunden, die Wichtigkeit von Leerräumen und der Preis von Komplexität, das Zusammenspiel von Fantasy, Realismus und Plausibilität, sowie die Gestaltung „würdiger“ Schauplätze für Abenteuer. Um relativ willkürlich einen der Artikel heraus zu greifen: In Nutze Deinen Aufhänger (original: Seize the Hook) gibt Rob Heinsoo, Chefdesigner der 4. Edition von Dungeons & Dragons, Ratschläge zum Designprozess eines kompletten Spiels: „1. Entwirf ein Spiel, das Du gerne spielen würdest, aber nicht kannst, weil noch niemand es entwickelt hat. […] 2. Sei mit Deinem Design nicht zufrieden, bis Du die Kernmechanik gefunden hast, die das Thema des Spiels erfasst […]. 3. Verstehe sämtliche Konsequenzen Deines mechanischen Aufhängers und ziehe sie durch.“ In anschaulichen Beispiel erläutert er diese Punkte anhand verschiedenster Spiele und gibt nebenbei noch interessante Einblicke in die Designprozesse der 4. Edition.
Der zweite Teil berührt Themen, die für Spielleiter mindestens ebenso relevant sind, wie für Spieldesigner: hinterhältige Plots, die verschiedenen Arten von Begegnungen, das spannende Ausschmücken von Städten auf dem Weg der Helden, die Besonderheiten des Unterreichs, die „Persönlichkeiten“ von Monstern, die Handhabung von Monsterhorden, das Spielen von „dunklen“ Charakteren, der Entwurf von arabischen Nächten oder Detektivgeschichten, die Verwendung von Humor oder von Irreführung, sowie den Aufbau der Dramaturgie einer Geschichte. In Auf der Straße, dort wo Helden leben erklärt zum Beispiel Ed Greenwood, der Erschaffer der Vergessenen Reiche, wie man einem Ort die Tiefe verleiht, die ihn von einer gesichtslosen Stadt in etwas verwandelt, was Spieler fasziniert und wohin sie zurückkehren wollen: Indem man ihn wie eine Sitcom mit Nebenplots füllt und den Charakteren dort eine gewisse Tiefe gibt. Wiederum gibt es zahlreiche Beispiele, wie das konkret aussehen könnte.
Der dritte Teil behandelt schließlich die Abläufe des Designs als Arbeitsprozess: Die Kunst der Präsentation, die Zusammenarbeit mit anderen Autoren, der Umgang mit Fehl- und Rückschlägen, sowie mit Fristen. Außerdem gibt es hier noch ein paar Artikel, die nicht recht hierher, aber auch nicht in einen der anderen Abschnitte zu gehören scheinen: zur Temporegulierung („pacing“), Spielbalance und dem Entwurf von Sandkastenstrukturen. In diesem Teil wird klar, dass Spieldesign eben doch Arbeit ist und dass es mit ein paar guten Ideen nicht getan ist, sondern, nachdem die anfängliche Euphorie verflogen ist, eine ganze Menge mehr dazu gehört ein fertiges, hochwertiges Produkt abzuliefern. Aber man ahnt, dass es das wert ist – zumindest in vielen Fällen.
Eine erschöpfende Behandlung all der im Buch angesprochenen Bereiche ist in dem gegebenen Umfang natürlich nicht möglich; manches bleibt bruchstückhaft, aber es ist, von ein paar merkwürdigen Ausreißern abgesehen, doch sehr viel Gutes dabei. Hier plaudern Autoren aus dem Nähkästchen, die wirklich wissen, wovon sie schreiben. Man spürt die Leidenschaft und die Kompetenz und jeder Leser, ob Designer oder Spielleiter, wird nach dem Lesen ein tieferes Verständnis dafür haben, was gutes Rollenspieldesign ausmacht. Und dabei bleibt die Sprache stets lebendig und es wird eigentlich nie langweilig.
Fazit:Ich hoffe, meine Besprechung hinterlässt trotz einiger Kritikpunkte keinen allzu negativen Eindruck, denn im Grunde handelt es sich hier um eine Sammlung echter Edelsteine, die zu recht 2012 den ENnie Award für das beste rollenspielbezogene Produkt gewann. Wer sich mit Englisch wohl fühlt, dem empfehle ich dabei auf die Originalversion Complete Kobold Guide to Game Design, zurückzugreifen. Die Deutsche Übersetzung ist aber trotz einiger ärgerlicher Ausrutscher, ohne die meine Bewertung sicher einen halben Punkt höher liegen würde, auch empfehlenswert.
Was zu einer sehr guten Bewertung fehlt, ist, um im Bild zu bleiben, die passende Fassung: Es reicht eben nicht, ein paar sehr gute Aufsätze in eine Reihenfolge zu bringen. Um ein echtes Handbuch des Rollenspieldesigns zu schaffen, bräuchte es einige Arbeit, diese abzurunden und in einen größeren Zusammenhang zu stellen. So bleibt es eben eine Sammlung ausgezeichneter Blog-Artikel.
Übrigens gibt es noch eine Reihe weiterer Bände von ähnlicher Art. Erschienen sind bisher • Des Kobolds Handbuch der Welterschaffung • Des Kobolds Handbuch des Brettspiel-Designs • Des Kobolds Handbuch des Kampfes • Des Kobolds Handbuch der Magie
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