Die 6. WeltEs ist schwierig zu beschreiben, was „Shadowrun. Die 6. Welt“ eigentlich ist. Ein Nachschlagewerk? Ein Sammelband? Kurzgeschichten mit Zugaben? Wäre es ein Essen, wäre es ein Salat für Schwangere – also Elfennahrung mit Ketchup, Nutella und Fisch. Was nicht heissen muss, das einzelne Segmente nicht durchaus schmecken können oder gesund sind.
Eins sei gleich vorneweg gesagt: Wer sich die „Suspension of Disbelief“ leicht verdirbt, also das Ernstnehmen einer fiktionalen Welt, der sollte sich gut überlegen, ob er „Die 6. Welt“ wirklich benötigt. Natürlich wird ein Rollenspiel von Menschen gemacht. Wem aber Reflexionen über die Regeln, die Sichtweisen der Entwickler oder die Geschichte des Systems die Künstlichkeit des Settings zu bewusst machen, der sollte sich den Kauf zweimal überlegen. Wer die Welt von Shadowrun nur als Bühne für eigene Abenteuerideen benutzt und selten auf die offizielle Timeline zurückgreift, der braucht „Die 6. Welt“ eigentlich auch nicht wirklich. Wer sich gern in die Anonymität der Quellenbücher zurückzieht und sich als Spieler und SC eher als Opfer grosser unbekannter Mächte sieht, der braucht das Buch ebenfalls nicht. Gespoilert wird nämlich durchaus – und wer auch als Spieler manche Dinge nicht wissen möchte, sollte sich das Schmökern durchaus überlegen.
Nun gut, wer braucht das Buch denn dann? “Shadowrun. Die 6. Welt“ ist vor allem ein Buch über Shadowrun für Interessierte, die noch nicht seit der ersten Edition dabei sind – also wohl die meisten aktiven Spieler oder Spielleiter. Auch wer ganz „frischer“ oder fachfremder Spieler/Leser ist, bekommt grundlegende Informationen zu eher komplexen Themen wie „Cyberpunk“ als literarischem Genre oder „Rollenspiel“. An sich eine lobenswerte Sache. Dann gibt es Überblicksartikel wie „Shadowrun –Das Rollenspiel“ (S. 176-186), der kurz und bündig Fakten zu den verschiedenen Editionen liefert; der „Kampf der Editionen“ (S. 321-349) zeigt deren Unterschiede in der Praxis, indem eine typische Kampfsituation unter verschiedenen Editionsbedingungen simuliert wird. Dazu gibt es noch Interviews mit Entwicklern, diverse Kuriositäten, Informationen zu dem einen oder anderen Quellenbuch, Wissenswertes zu den Verbindungen zwischen Earthdawn und Shadowrun, ... Kurzum, eine recht bunte Mischung, die zwar nicht überlebenswichtig ist und die – das könnte man als Nachteil auslegen – zuweilen auch konzeptlos anmutet. Andererseits hat es auch sein Gutes, weil jeder irgendetwas findet, was ihn interessiert. Und ein solcher Mix spiegelt ja auch die nicht immer systematisch ablaufende Entwicklung eines Rollenspielsystems wieder.
Neben diesen Zutaten, die den Meta-Aspekt des Systems bedienen, versucht sich Die 6. Welt durchaus erfolgreich auch als Lexikon oder Nachschlagewerk. Langfristig betrachtet ist das wohl eine eindeutige Stärke des Buches. Gesammelt werden kurz gefasste und grundlegende Inplay-Informationen aus den einschlägigen Quellenbüchern über Konzerne, Drachen, gesellschaftliche Gruppierungen, die Matrix etc. („Mächte der Sechsten Welt“, S. 188-247), auch eine ausführliche Timeline gibt es („Der Zahn der Zeit“, S. 51-120). Tatsache ist – viele der Fakten gibt es natürlich auch woanders. Und Spieler oder Spielleiter mit regulärem Matrixzugang kommen auch ohne dieses Buch an die eine oder andere gesuchte Information. Allerdings durchaus beachtenswert für den Spielleiter, der ohne alle Quellenbücher oder Netz schnell ein Ereignis in der Timeline nachschlagen muss oder Basisinfos zu einer Organisation sucht, deren Handlanger die Freundin irgendeines lebensechten NSCs terrorisieren könnten. Und für Sammler ist vielleicht auch die Auflistung aller jemals erschienenen Produkte rund um Shadowrun nützlich. Zur Auflockerung gibt es das eine oder andere Farbbild, die eine oder andere Karte oder auch diverse Wahrscheinlichkeitstabellen für die Handhabung der guten W6.
Fazit: Wer die wichtigsten Fakten aus und über Shadowrun plus die eine oder andere Kuriosität gebündelt an einem Ort im Bücherregal haben will, gerade in Kauflaune ist und sich an nicht immer ganz sorgfältig redigierten Artikeln und einem wenig aussagekräftigen Inhaltsverzeichnis nicht stört, für den ist „Shadowrun – Die 6. Welt“ zu empfehlen.
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