Links zur Rezension Pegasus:
Cthulhu NowSchon seit Längerem versuchte Pegasus, an eine Lizenz von Delta Green von Pagan Publishing heranzukommen, was letztlich aber nicht klappte. Da man mit Chaosium gute Erfahrungen gemacht hat, gelang der Deal, unter dem bestehenden Titel „Cthulhu Now“ ein fast komplett selbstgeschriebenes Quellenbuch zu veröffentlichen. Ursprünglich sollte es gar ein Regelwerk werden, sprich auch die Grundregeln beinhalten, nun ist es das Heft „Cthulhu für Einsteiger“ als Beilage geworden.
Das 244-seitige Hardcover bietet einen tiefen Einblick in die Welt der Gegenwart, wozu „Welt aus den Fugen“ einen ersten Überblick bietet. Eine Übertragung einiger cthuloider Schauplätze (Berge des Wahnsinns) und Rassen (z.B. der Mi-Go oder der Tiefen Wesen) findet sich ebenso hier wie einige Inspirationsquellen des deutschen Cthulhu Now: U.a. auch einige, die man vielleicht nicht erwartet hätte, wie The Ring, Millenium oder Twin Peaks.
„Fertigkeiten“ und „Berufe der Moderne“ bringen das Regelwerk auf den Stand der Gegenwart, schließlich gibt es einige moderne Feuerwaffen, ebenso haben sich z.B. Elektronik oder Fotografie in den letzten 80 Jahren gewaltig verändert. Als Regelvariante gibt es die Oberfertigkeiten Kriegshandwerk und Überlebenskunst, die einzelne Fertigkeiten zusammenfassen, letzteres z.B. u.a. essbare Pflanzen und Kleintiere finden, Fallen bauen oder einen Unterschlupf bauen. Auch zahlreiche neue Berufe stehen zur Auswahl, wobei Wert auf eine breite Auswahl bei Polizei, Militär und Geheimdienst gelegt wird. Polizist, Streifenpolizist, Bundeskriminalbeamter, Kriminaltechniker, SEK-Beamter oder Kriminalbeamter ist z.B. die Bandbreite bei der Polizei.
Wahnsinn ist bei Cthulhu ja schon immer ein mögliches Charakterende gewesen angesichts gewaltiger Stabilitätsverluste, in „Psychische Störungen und ihre Behandlung“ werden Spielern und Spielleitern nun die Werkzeuge an die Hand gegeben, Psychosen individueller zu gestalten und bei der Behandlung dem heutigen Stand der Technik Rechnung zu tragen. Da das Kapitel von zwei Autorinnen geschrieben ist, kommen einige Infos zweimal vor oder werden etwas unterschiedlich dargestellt. Insgesamt schafft das Autorinnenduo aber den Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Umsetzbarkeit im Spiel. Allerdings ist demnächst der Quellenband „Dementophobia – Wahn & Geistiger Verfall“ angekündigt, der sicherlich in ähnlicher Weise auf diese Themen eingeht.
„Gemeinschaften des Zwielichts“ stellt mögliche Gegner (oder Verbündete) der Charaktere vor, unterteilt in Geheimbünde, Sekten und Kulte. Während die beiden ersten Unterkapitel historisch orientiert sind, ist letztere Kategorie rein fiktional. Bei den Geheimbünden findet sich von Freimaurern oder Illuminaten über den KuKluxKlan bis hin zu Opus Dei alles, was Rang und Namen hat. Einen ebenfalls interessanten Überblick bieten die Sekten. Während Scientology und Aum-Sekte zu den bekannteren Vertretern gehören, gibt es mit Bhagwan oder Volkstempel auch unbekanntere. Kulte dreht sich dann um New World Industries (NWI), den TchoTcho-Kult oder die Bruderschaft des Gelben Zeichens. Ersterer ist der Megacon, der aufgrund der Tochterfirmen immer als Finanzier für obskure Projekte taugt, egal ob er nun die Charaktere bezahlt oder deren Gegenspieler. In jedem Fall ein omnipotenter Machtfaktor im Hintergrund, der sich schnell als Erklärung heranziehen lässt, aber andererseits auch einer, der vielleicht zu schnell als Erklärung herangezogen wird. Zudem werden obskure Religionen und verschiedene Verschwörungstheorien vorgestellt, die in Zusammenhang mit diesen Organisationen stehen bzw. stehen könnten. Dazu werden noch die Werkzeuge vorgestellt, selbst Geheimbünde, Kulte und Sekten zu schaffen. Insgesamt auch ein gelungener Überblick mit Kurzvorstellungen – mehr kann, mehr will dieses Kapitel nicht leisten. Sicherlich eine gute erste Station, um Dauer-NSC für seine Kampagne zu finden, mit einem glaubwürdigen Interesse an den Dingen, die auch die Charaktere interessieren.
Das Kapitel „Moderne Medien“ stellt die Kommunikations- und Informationstechnologien von heute vor, allen voran das Internet. Dabei ist es zwar durchaus eine kurzweilige Vorstellung, insbesondere mit den Hinweisen zum Deep Web, also allem, was nicht übers Open Web erreicht werden kann, z.B. aus simplen Gründen wie einem benötigten Bezahlpasswort. Aber während wirklich fast überholte Dinge wie das Usenet angesprochen werden, fehlen alle sogenannten Web2.0-Werkzeuge, genauso wie Instant Messenger komplett unterschlagen werden . So wirkt das Ganze nicht up-to-date, sondern eher auf dem Stand von vor 3-5 Jahren. Trotzdem reicht es für das aktive Spiel vollkommen aus. Weitere Themen, die kurz abgehandelt werden, sind Musik, Film, Telefonie und Bücher, z.B. reingeschnittene Geheimbotschaften und rückwärts abgespielte Musik. Auch die Übertragung von Mythoswerken auf CD-ROM wird regeltechnisch erfasst. Kleine Ideen sind in extra Rahmen vom Text abgesetzt und geben Ansätze zum Einsatz im Spiel und als Plotaufhänger. Beim Thema Quantencomputer zeigt sich der Autor meiner Meinung nach sehr optimistisch, sicherlich kein Thema für konkrete Umsetzungen heute oder morgen. Das Kapitel geht kaum über den Wissensstand hinaus, der zum Allgemeinwissen gehört. Einzig der Überblick im Gesamten, die Hinweise zu Computerviren und die Plotideen sichern die Berechtigung dieses Kapitels.
Es folgen mit den Kapiteln „Kriminalität in der Gegenwart“, „Polizeiliche Ermittlungsmethoden“ und „Gerichtsmedizin“ drei verwandte Themengebiete, wie man sie aus vielen, vielen Fernsehserien kennt. Aber da sich Cthulhu-Quellenbücher gründlicher Recherche erfreuen, finden sich hier auch viele Fakten wieder, die im Fernsehen nicht oder anders dargestellt werden. Insbesondere die Betrachtung des Waffenrechts in Deutschland und in den USA sowie die Strafrahmen in diesen Staaten bilden Basiswissen. Verschieden schwere Verbrechensarten wie Mord, organisiertes Verbrechen oder Terrorismus, mit denen die SC in Kontakt geraten könnten, werden näher beleuchtet. Ein Überblick über Drogen und ihre Folgen rundet das erste Kapitel ab.
Dann geht es in die Welt der Polizei oder besser ihrer Organisation. Die Unterscheidung zwischen Schutz- und Kriminalpolizei wird ebenso angesprochen wie verschiedene Beispielbehörden, neben BKA und FBI auch das ATF, DEA, der US Marshallservice sowie Inter- und Europol. Diese dienen als verschiedenste mögliche Hintergründe für die Spielercharaktere - abgesehen davon, dass die SC früher oder später mal Kontakt mit diesen Behörden haben könnten. Insofern sind dann auch die Ermittlungsmethoden wichtig, die einem Polizisten zur Verfügung stehen und was er dazu braucht, z.B. eine richterliche Genehmigung für Telefonüberwachung. Die Gegenmaßnahmen stellen dann einige Möglichkeiten dar, sich solchen Maßnahmen zu entziehen.
Das Kapitel „Gerichtsmedizin“ wird dann spätestens jedem CSI-Fan das Wasser im Mundwasser zusammenlaufen lassen: Methoden zur Identifizierung von Leichen, Vorgehen bei einer Autopsie, Todesarten und ihre Merkmale, Verwesungsprozesse, Methoden zur Beweissicherung – was will man mehr...
Der Quellenbuchteil wird dann durch ein Ausrüstungskapitel abgeschlossen. Hier finden sich Schadenswerte, Preise und - für Cthulhu nicht ganz unwichtig, je nachdem wann man spielt – Herstellungsdaten von Waffen, Infos zu Waffenzusätzen wie Schalldämpfer, Preislisten und Kurzbeschreibungen zu Ausrüstung und Fahrzeugen.
„Fakten, Fakten, Fakten“ – dieser Ausspruch umschreibt das Quellenbuch am besten. Zu vielen Themen, die den Charakteren in der Gegenwart begegnen können, finden sich Informationen. Sicherlich, das meiste lässt sich in einer Internetrecherche auch herausfinden, aber gerade dieses geballte, oft spielrelevante Wissen, immer gut recherchiert, heruaszufinden, würde sicherlich Jahre dauern. Wenn der Spielleiter nun die Rosentempler als NSC-Organisation in seiner Kampagne oder der Spieler das BKA als Arbeitgeber nutzen möchte, können die Texte nur Ausgangspunkt einer Recherche sein, aber sie sind in jedem Fall eine solide Basis.
Zwar sind eigentlich alle Kapitel anregend geschrieben und lassen einem Ideen im Kopf schwirren, dennoch hapert es manchmal an konkreten Umsetzungsideen fürs Spiel, hier ist nur „Moderne Medien“ vorbildlich. Auch der cthuloide Bezug kommt erstaunlich kurz, eigentlich gehen nur wenige Kapitel speziell auf cthuloide Verschwörungen, Praktiken etc. ein. Andererseits richtet sich das Werk ja an eher erfahrene Spielleiter und es bleibt auch für Spieler anderer Systeme, die im Hier und Jetzt spielen, interessant - KULT, Unknown Armies oder die Welt der Dunkelheit seien hier stellvertretend genannt. Drittens trägt es wohl auch dem Fakt Rechnung, nicht nur cthuloiden Horror damit spielen zu können, sondern sich auch allen anderen Horrorsubgenres widmen zu können oder gar Rollenspiele um Mysterien, Verschwörungen oder einen Thriller aufzuziehen.
Natürlich kann so ein Buch nie alle Themen umfassen, trotzdem gibt es ein paar deutliche Lücken. So gibt es sowohl das Kapitel „Moderne Medien“ wie auch „Polizei“, aber der Polizeifunk fehlt. Ebenso ein kleiner Ausflug in moderne Verschlüsselungs- und Codierungstheorie.
Zumeist ist das Quellenbuch aus der Sicht eines neutralen Beobachters geschrieben, was dem Ganzen trotz über einem Dutzend Autoren einen einheitlichen Stil gibt. Nur beim Thema deutsche Gefängnisse wird diese Linie verlassen und mit der durchaus streitbaren Meinung aufgewartet, dass der Aufenthalt im Gefängnis für sozial Schwache ein Freizeitvergnügen sei. Ich zitiere mal: „Wer aus asozialen Verhältnissen stammt, daheim eh nur vor dem Fernseher hing und mehr auch nicht braucht, mag eine Haft sogar als wohltuend empfinden“. Ganz egal wie man dazu steht, solche stark wertenden Aussagen sollten auch neutral formuliert sein, auch wenn diese (vermutlich) von Chefredakteur Frank Heller selbst stammt (so entnehme ich es der Danksagung, immerhin haben allein an dem Kapitel acht Personen mitgewirkt).
Kommen wir zu den beiden Abenteuern. Beide sind für einen Abenteuerwettbewerb geschrieben worden, der als ersten Preis die Veröffentlichung in diesem Quellenbuch ausgeschrieben hatte und auf der „Hannover spielt! 2006“ ermittelt wurde. Da die Cthulhu-Redaktion den Einsendungen ein hohes Niveau attestierte, entschied man sich, gleich zwei Abenteuer aufzunehmen, weitere werden den Spielern über Fanprojekte zugänglich gemacht.
„Die schreckliche Welt des Paul Wegner“ von Ole Johan Christiansen ist in der Tat ein herausstechendes Abenteuer, welches am ehesten von Filmen wie The Cell oder Identity beeinflusst wurde. Die Charaktere geraten aus ihrem Alltag heraus in die Gedankenwelt eines Menschen – augenscheinlich der eines Opfer eines Pädophilen. Und nur wenn sie sich mit den Konstrukten dieser seltsamen Welt auseinandersetzen, können sie aus ihr entkommen. Großer Pluspunkt ist, dass es ein gutes Einstiegsabenteuer bei völlig beliebiger Zusammensetzung darstellt, allerdings fehlen komplett cthuloide Bezüge. Dafür ist es aber recht innovativ und mal abseits von dem, was man wohl erwarten würde, und insgesamt sehr gelungen.
Das zweite Abenteuer „Eisige Tiefen“ stammt aus der Feder von Hendrik Ebbers und ist eher klassisch zu nennen. Die Charaktere erreichen eine Forschungsstation auf der Marion-Insel in der Nähe der Antarktis. Doch schon von Weitem kann man bemerken, dass etwas nicht stimmt. Weder das Summen der Dieselgeneratoren ist zu hören noch Licht wahrzunehmen, offenbar ist dem bisherigen Team etwas passiert. Und dieser Eindruck bestätigt sich schon recht bald, wenn die Charaktere die Station betreten... Das Abenteuer ist ereignisorientiert, daher wurden auch unabhängig vom Handeln der Charaktere schon eine Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt, welche die Spieler nur bedingt beeinflussen können. Sollen sie ja auch nicht unbedingt, wichtiger ist es, herauszufinden, was hier vorgeht. Die Charaktere sind entweder die nächste Crew der Station, Ermittler, die nachschauen sollen, warum der Kontakt abgebrochen ist, oder – mit dem Griff in die Trickkiste – als Gestrandete oder Abgestürzte. Insofern hätte dieses Abenteuer auch gut in den Band „Expeditionen“ gepasst, in jedem Fall verbindet es klassischen Horror mit cthuloiden Hintergründen.
Kommen wir zum Drumherum. Für 30 Euro erhält man 244 Seiten im Hardcover mit edlem Lesebändchen, das ist durchaus günstig. Das Cover sollte ursprünglich nochmal geändert werden, aber es ist nun beim ursprünglichen geblieben: Eine Großstadt unter dunklem Himmel, über dem vage die Konturen von Cthulhu himself zu erkennen sind. Das Innenlayout ist übersichtlich und nicht wie altbekannt mit Fotos bebildert, sondern mit modernen sw-Tuschezeichnungen, die hervorragend ins Gesamtkonzept passen.
Fazit: Insgesamt ist das Buch hochspannend zu lesen und ein gelungenes Referenzwerk für modernen und auch cthuloiden Horror mit toller Ausstattung und zwei gelungenen Einstiegsabenteuern. Insofern ein sehr gelungener Einstieg ins neue Setting.
Vielleicht noch ein Nachsatz zur Benotung von 4.7 Punkten. Zwar habe ich in der Rezi einige Kritikpunkte herausgearbeitet, insgesamt stecken diese aber im Detail. Der Gesamteindruck ist ein sehr guter, sowohl innen als auch außen, wie auch vom Preis-Leistungsverhältnis her.
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