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Codex UrbanisCodex Urbanis
Bewertung:
(3.6)
Von: Marcus Niechciol
Alias: Tex
Am: 04.10.2007
Autor:Florentine Flach, Sonja Garske, Tobias Hamelmann, Oliver Hoffmann, Lars Schiele
Typ:Erweiterungsband
System:Engel (Arkana-Karten und d20)
VerlagFeder und Schwert
ISBN/ASIN:978-3-937255-66-8
Inhalt:168 Seiten, Hardcover
Sprache:Deutsch

Stadtluft macht frei – dieser altbekannte Satz gilt auch noch im 27, denn nur ein paar Dutzend Städte unter der Herrschaft einzelner Diadochen (oder Schrottbarone, wie sie auch und vor allem von der Kirche genannt werden) haben sich frei gemacht vom allumfassenden Einfluss der Angelitischen Kirche. Codex Urbanis, der lang erwartete neue Quellenband für das von Oliver Hoffmann, Oliver Graute und Kai Meyer entwickelte und bei Feder&Schwert verlegte Rollenspiel „Die Chroniken der Engel“, soll nun erstmals einen genauen Blick auf und in diese Städte werfen, hatte man doch bisher nur in den Romanen Homini Lupus und Exodus einen kleinen Einblick in die bekannteren Diadochenstädte Cordova und Moskau erhalten können. Um den Perspektivwechsel komplett zu machen, haben sich die Verantwortlichen bei Feder&Schwert diesmal ein komplett neues Autorenteam geangelt, ebenso wie einen neuen Künstler für die Illustrationen. Ob das neue Team den Erwartungen der Engel-Fans gerecht werden und Codex Urbanis an die zum größten Teil hervorragenden Engel-Publikationen heranreichen kann, soll die vorliegende Rezension klären.

 

Vorher allerdings noch zwei Hinweise:

Erstens: Wie bei so ziemlich allen Engel-Publikationen gilt auch hier: Wer Engel als Spieler erleben möchte, sollte nicht weiterlesen, genauso wie er das Buch selbst nicht auf eigene Faust lesen sollte. Codex Urbanis bietet zwar nach eigener Aussage deutlich „spielerfreundlichere“ Texte (die z.B. einem Spieler ermöglichen sollen, einen „aufgeklärten Städter“ zu spielen), doch besteht immer noch die Gefahr, dass man zufällig etwas liest, das ein Geheimnis der Engel-Welt lüftet und als Spieler nimmt man sich damit einen Teil des Spielspaßes.

Zweitens: Diese Rezension ist wieder einmal sehr lang geraten, weil es einfach zu viele unterschiedliche Aspekte zu behandeln gilt. Deshalb gebe ich nach jedem Kapitel ein kurzes Zwischenfazit inklusive Teilnote, so dass ein Leser, der nicht den ganzen Text lesen will, trotzdem einen guten Überblick bekommt.

Erster Eindruck und Gestaltung

Codex Urbanis kommt als knapp 160 Seiten starkes Hardcover daher. Hardcover? Ja, Hardcover! Überraschend, wenn man bedenkt, dass bis auf Mater Ecclesia und das Grundregelwerk alle bisherigen Publikationen lediglich Softcover waren. Der Umschlag ist diesmal allerdings nicht im bekannten, edlen Gold gehalten, sondern in mindestens genauso edlem Silber, was das Buch von den anderen deutlich abhebt und somit seine Sonderstellung, also die radikal andere Sichtweise auf die Engel-Welt, unterstreicht. Wie gewohnt ist das Cover an sich recht schlicht gestaltet, neben dem Titel findet man kein aufwendiges Coverbild sondern nur ein paar große Zahnräder, die auch wieder auf den Inhalt hinweisen, nutzen doch die meisten Diadochen die von der Kirche verbotenen Maschinen.

Im Inneren findet man wieder die Engel-typischen Gestaltungsmerkmale, die jedoch leicht abgewandelt sind: Auf jeder Doppelseite erkennt man im Hintergrund neben dem reißerischen Satz „Seid keine Knechte“ (und anderen Sätzen; diese Idee hat mir sehr gut gefallen) am rechten Rand wieder die bekannten Symbole. Die Überschriften sind in der eigens für Engel geschaffenen Schriftart gehalten, doch die Bildunterschriften sowie die am Anfang jedes Kapitels stehenden kleinen Zeichnungen sind in einer „technisierteren“ Schrift gehalten, die mich ein wenig an das Rollenspiel Degenesis erinnert, aber trotzdem nicht fehl am Platz wirkt.

Für die Zeichnungen im Inneren des Buches hat man sich neben Eva Widermann einen zweiten, neuen Künstler an Bord geholt, nämlich Max Liebehenschel, dessen leicht verwaschener, unscharfer Zeichenstil sich deutlich von dem Stil, der Engel bisher ausgemacht hat, unterscheidet. Nichtsdestotrotz passt dieser Stil meiner Meinung nach hervorragend zu dem Flair, welches eine verdreckte, teilweise heruntergekommene Stadt unter Diadochenherrschaft ausmacht, und man fühlt sich sofort in die Welt hineinversetzt. Ein Kritikpunkt, den man sicherlich anbringen kann, wäre, dass die Zeichnungen etwas „generisch“ und austauschbar wirken und dass man nichts wirklich „erkennt“, was ich persönlich aber alles als weniger schlimm empfinde. Mir gefallen die Zeichnungen sehr gut, anderen überhaupt nicht, aber so ist Kunst nun einmal, weshalb dieser Punkt ja auch nicht in die Bewertung einfließt.

Insgesamt gesehen finden sich zwar nicht unbedingt wenige Zeichnungen in Codex Urbanis, jedoch hätten es durchaus mehr sein dürfen. Schmerzlich vermisst habe ich weitere Zeichnungen besonders in Kapitel 4, welches sich um neue Traumsaat-Kreaturen dreht. Auch Karten, die in den letzten Büchern immer von Tobias Mannewitz beigesteuert wurden, sucht man selbst im Städte-Kapitel vergeblich. Doch zu diesen beiden Punkten später an passender Stelle mehr.

 

Doch nun zur detaillierten Besprechung des Inhalts:

Introitus

Oder wie man dieses Buch benutzt

Dieser Abschnitt ist genau das, was die Überschrift verspricht: Eine Einleitung in die Welt der Städte und Diadochen. Denn nur von diesen handelt Codex Urbanis, wie gleich zu Anfang klargestellt wird. Die großen angelitischen Städte wie Roma Æterna oder Prag wurden ja bereits in den einzelnen Ordensbüchern näher vorgestellt. Bereits hier wird der schwelende Konflikt zwischen der Urbanis-Liga und der Angelitischen Kirche angesprochen, der möglicherweise – so legen es jedenfalls die vielen Gerüchte nahe, die man so zu hören bekommt – zum Scheideweg der Welt des 27. Jahrhunderts werden könnte, und so wird hier der Rahmen gesetzt, in dem Codex Urbanis spielt.

Kapitel 1: Vom Leben in Städten

Oder was es bedeutet, ohne den Segen des Herrn zu leben

Wie üblich findet man auch in Codex Urbanis vor jedem Kapitel eine doppelseitige Kurzgeschichte aus der Feder verschiedener Engel-Autoren, die die Thematik des Kapitels aufgreift und – meist sehr gut geschrieben – das Flair der Engel-Welt hervorragend transportiert und dem Spielleiter tolle Ansätze für Abenteuer liefern kann (hervorzuheben wäre an dieser Stelle die Kurzgeschichte „Spezialitäten“ vor dem Traumsaat-Kapitel, diese ist einfach nur hervorragend und sticht selbst unter den anderen, schon sehr guten Kurzgeschichten hervor). Fast genauso üblich ist jedoch, dass das erste Kapitel dabei eine Ausnahme macht, und so findet man hier eine doppelseitige Collage mit Skizzen verschiedener Charakterzeichnungen (alle von Eva Widermann), die im Laufe des Buches auftauchen. Danach geht es sofort los: Das erste Kapitel ist eine Art Rundumschlag über alle möglichen, urbanen Dinge. Ich kann es vorwegnehmen: Es handelt sich hier um das mit Abstand schlechteste Kapitel von Codex Urbanis. Immer wieder stolpert man über Dinge, die einen stutzig werden lassen. Ist der erste Abschnitt über das äußere Erscheinungsbild noch sehr gut gelungen (beschrieben wird das Aussehen der Städte von außen nach innen, also so, wie ein ankommender Reisender es sehen würde), so muss man beim folgenden Abschnitt über Politik (genauer über verschiedene Herrschaftsformen) schon mal schlucken: Adolokratie? Pornokratie? Gynaiokratie? Letzteres soll „Herrschaft der Frauen“ bedeuten und der beschreibende Text wirkt so, als hätte man ein Thesenpapier einer ultrafeministischen Gruppierung abgeschrieben. Doch es wird noch schlimmer: Der folgende Abschnitt behandelt das Mannawesen in den freien Städten. Dabei wird als Beispiel einer „alternativen“ Währung eine kleine urielsländische Stadt angeführt, in der mit lebenden Echsen bezahlt wird. Das ist allein noch nicht schlimm, doch als ich gelesen habe, dass die wertvollsten Echsen purpurrot sein sollen, mit pinken Streifen (!) und grünen Punkten (!!), da konnte ich das Ganze einfach nicht mehr ernst nehmen. Ich bin jetzt einfach mal so naiv und unterstelle den Autoren, dass das nur „aus Versehen“ durchgeschlüpft ist, denn mir will es einfach nicht in den Kopf, warum man bei einem so akribisch durchdachten und detailverliebten Rollenspiel wie Engel mit Absicht etwas derart lächerliches einbauen sollte. Die anderen Beispiele für Währungssysteme (Reisgiros, quasi Reissilos, die als Girokonten fungieren, und eine schnell verwesende Papierwährung, die es nicht möglich macht, Geld zu horten) wirken zwar nicht derart lächerlich, aber dennoch so, als ob man den Autoren die Vorgabe „Macht mal irgendwas, das vollkommen unkonventionell ist, egal ob glaubwürdig oder nicht“ gegeben hätte. Hat man diesen Abschnitt aber durchgelesen, so hat man das Schlimmste hinter sich, denn die folgenden Unterkapitel sind schon ein wenig besser gelungen: Im Abschnitt über das Arbeitsleben wird sowohl auf die Augsburger Besonderheit des Zunftwesens eingegangen, als auch auf verschiedene Berufe, die es nur in (kirchenfreien) Städten gibt (z.B. Tekniker, die mit der von der Kirche verbotenen Technik hantieren, oder Urbanographen, Gelehrte, die vorrangig „das Wesen der Stadt“ studieren). Weiter geht’s mit dem Rundumschlag: In einem längeren, durchaus interessanten Abschnitt wird anhand von schönen Beispielen darauf eingegangen, wie man im 27. Jahrhundert mit dem Problem der Wasserversorgung großer Städte umgeht. Auch die Wiederverwertung von Rohstoffen und der Umgang mit den Toten (irgendwie seltsame Zusammenstellung) werden thematisiert. Was mir schon im gesamten Kapitel und besonders in diesen Abschnitten aufgefallen ist, ist, dass hier doch viel zu oft von der Angelitischen Kirche die Rede ist und deren Sichtweise bemüht wird (Zitat: „Leider ist zu beobachten, dass immer mehr Bürger zu solch häretischem Handeln übergehen“). Wie jetzt? Ich dachte, das Buch würde Diadochenstädte sowie deren Sicht auf die Welt behandeln? Sehr inkonsequent. Nach einem mehr oder minder netten Abschnitt über die Wohnsituation in Städten (wo auf alle denkbaren Aspekte eingegangen wird), geht es dann Schlag auf Schlag: Gesundheit, Krankheiten, Geburtshäuser, Kinderbetreuung, Armut, Ausbildung, Bildung, Handel, Transport, Kommunikation... das alles wird nacheinander in recht kurzen Absätzen behandelt. Mir erscheint es fast so, als hätte man hier festgestellt, dass man noch so viel zu behandeln hat, aber dafür nur so wenig Platz zur Verfügung steht, und so kommen die oben genannten Aspekte recht kurz und werden nur oberflächlich behandelt. Der letzte große Abschnitt behandelt dann „die städtische Kultur – was es bedeutet, ’frei’ zu sein“. Ein hehrer Titel, doch das, was dann kommt, hat mit diesem nur am Rande zu tun. Zuerst kommt eine Auflistung der verschiedenen Stände, dann wird sehr kurz auf den Glauben an sich eingegangen, bevor man zu Kunst, Gastronomie und Unterhaltung kommt. Inklusive einem Seitenbalken, der die „Feste der Städter“ beschreibt (den ich für recht gelungen halte), kommt man auf knapp 2 Seiten für dieses Thema. Das erscheint nicht nur wenig, das ist auch wenig. Die hier beschriebenen Themen hätten viel mehr Platz verdient, denn die oberflächlichen Informationen, die man hier findet, reichen bei Weitem nicht aus. Den Abschluss des Kapitels bildet dann noch eine Doppelseite über Prostitution und die Kurtisanengilde von Palermo. Warum man diesem Thema soviel Raum widmet, ist mir schleierhaft, fallen mir doch ein ganzer Haufen Dinge ein, wie man den Platz besser hätte nutzen können (siehe oben).

 

Fazit für dieses Kapitel: Das mit Abstand schlechteste Kapitel von Codex Urbanis. Voller Fehlerchen und nicht durchdacht erscheinenden, merkwürdigen Dingen (Echsenwährung!). Dazu noch teilweise oberflächlich und durcheinander. Dazwischen allerdings auch ein paar gute Stellen (etwa die Abschnitte zum äußeren Erscheinungsbild der Städte). Schade, das ist schon mal ein sehr schlechter Auftakt.

Teilnote für dieses Kapitel: 2.7 (Seitenzahl: 26)

Kapitel 2: Urbanis-Liga, Neue Hanse und Nordbund

Oder von den Mächten, die die Welt in eine neue Zukunft lenken

Weg von den allgemeinen Ausführungen über die freien Städte, hin zu konkreteren Informationen über nicht-kirchliche Organisationen: Im folgenden Kapitel werden, wie die Überschrift bereits sagt, die Urbanis-Liga, der Nordbund und die Neue Hanse detaillierter vorgestellt, drei Organisationen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Zum einen der große Städtebund, zum anderen die lose Gemeinschaft von Wilden aus Skandinavien und zuletzt die der Kirche treu ergebene Handelsorganisation. Den Anfang macht dabei selbstverständlich die Urbanis-Liga, die in diesem Kapitel auch logischerweise den meisten Raum einnimmt: Zu Beginn wird erst geklärt, was die Liga überhaupt ist, nämlich ein militärisches und wirtschaftliches Zweckbündnis der meisten Diadochenstädte Europas, deren eigene Ziele und Motivationen fast so unterschiedlich wie ihre Städte selbst sind. Zuerst werden die größeren Mitglieder der Liga einzeln vorgestellt und kurz charakterisiert. Vom kleinen, aber dafür umso lauteren Athen über das belagerte Augsburg bis hin zu Wien, der Hauptstadt der Liga, finden sich allerhand unterschiedliche Diadochenstädte (oder besser, ihre Führer, denn dem einfachen Menschen ist es egal, ob er unter der Kirche oder einem Diadochen lebt, Hauptsache, er hat abends genug Essen auf dem Tisch) in diesem Bund zusammen. Des Weiteren wird auf die vielen kleinen und winzigen Siedlungen unter nicht-kirchlicher Herrschaft in den verschiedenen Ordensgebieten eingegangen (wobei es z.B. in Michaelsland überhaupt keine Diadochen gibt, während diese dem Orden Raphaels herzlich egal sind), wobei allerdings unklar ist, wie sie zur Liga stehen: Sind die kleineren Städte auch Mitglieder? Haben sie Gesandte in Wien? Recht unklar das Ganze.

Der nun folgende Abschnitt war namensgebend für das ganze Buch: Es wird auf etwa drei Seiten der legendäre Codex Urbanis vorgestellt, ein halbphilosophisches Traktat über die Verwaltung von Städten, mit dem Enrique von Cordova den Grundstein für die Gründung der Urbanis-Liga legte. Hier wird jedoch nur eine Art „Zusammenfassung“ gegeben, die sich aber nichtsdestotrotz sehr interessant liest. Von diesem (theoretischen) Startpunkt der Liga ausgehend, wird in den folgenden Abschnitten nun der Bogen geschlagen über die Vergangenheit (mittels einer Chronik) und Gegenwart der Liga (vorrangig der militärischen und politischen Situation) bis hin zur Zukunft: Welche Ziele verfolgt die Liga eigentlich? Wie können diese Ziele erreicht werden? Wer sind die möglichen zukünftigen Verbündeten? Der letzte Abschnitt, der die Liga behandelt, ist dann der deutlich interessanteste: Er beschäftigt sich mit der realen Politik der Liga und diese ist aufgrund der Aufspaltung der Mitglieder in „Zänker“ (die den Krieg gegen die Angelitische Kirche am liebsten sofort hätten) und Zauderer (die lieber abwarten und planen) sehr kompliziert und dies nicht nur untereinander, sondern auch im Kontakt mit anderen, auch angelitischen Städten. Auf diese wird gesondert eingegangen, so dass man am Ende einen sehr guten Überblick über die vielfältigen politischen Geflechte und Beziehungen hat.

Soweit die Urbanis-Liga, die nächste Organisation ist der Nordbund, ein ähnlicher, wenn auch bedeutend unorganisierterer Zusammenschluss von kirchenfreien Städten und Siedlungen im ehemaligen, von den Ramieliten noch großteils unbefriedeten Skandinavien. Über den Bund an sich gibt es nicht viel zu sagen: Anführerin ist Stine von Östersund (oder Ostersund, die Schreibweise wird unverständlicherweise ständig variiert), der Bund tut sich vor allem durch wikingerartige Überfälle auf angelitische Dörfer hervor, bei denen munter gebrandschatzt wird, in den Kohleminen von Gellivar schuften angelitische Sklaven und der Bund sieht sich in ständiger Gefahr, von den Ramieliten unterworfen zu werden und sendet deshalb Boten zur Urbanis-Liga aus. Das waren schon die wissenswerten Informationen, und somit ist der Abschnitt über den Nordbund recht kurz, wenngleich auch sehr informativ und schön geschrieben.

Die Reihe der nichtkirchlichen Organisationen komplett macht dann die Neue Hanse, die sich von den beiden anderen in zweierlei Hinsicht unterscheidet: Zum einen handelt es sich nicht um einen Städtebund, sondern um eine reine Handelsorganisation, zum anderen ist dieser zwar nominell von der Kirche unabhängig, aber ihr dennoch treu. Der der Neuen Hanse gewidmete Abschnitt behandelt aber nicht nur die Hanse an sich, sondern geht auch auf das allgemeine Wirtschaftssystem ein, welches mit dem besonderen Problem zu hantieren hat, dass niemand schreiben kann. Des Weiteren findet man Informationen zu Maßeinheiten, Schiffen (hier finde ich aber sehr, sehr merkwürdig, dass die riesigen Holks mit Antriebsmaschinen ausgestattet sein sollen - wie war das noch mal mit dem Technikbann der Kirche?). Daneben findet man dann ausführliche Beschreibungen der Händler an sich, deren Persönlichkeit etc., nebst einer detaillierten Zusammenstellung, was so ein Händler den ganzen Tag über macht (hauptsächlich essen). Nicht zu vergessen die vielen Arbeiter, die für einen typischen Händler schaffen: Matrosen, Kontorverwalter, Kapitäne, Dockarbeiter - allen wird ein kleiner Absatz gewidmet, so dass man einen sehr guten Überblick über das Umfeld eines normalen Händlers erhält. Hat mir gut gefallen. Wichtig ist auch das angelitische Steuerwesen, das ich aber irgendwie nicht verstehe (zu viele Ausnahmen und Spezialfälle machen das Ganze unverständlich). Wie schon bei der Urbanis-Liga bildet auch hier ein Abschnitt über die vielfältigen Beziehungen zu anderen Städten und Ordensgebieten sowie die internen Konflikte den Abschluss. Die präsentierten Informationen machen einen sehr guten Eindruck. Als Spielleiter kann man wunderbare Szenarien entwickeln, die Ideen sprudeln hier nur so vor sich hin. Sehr schön!

Insgesamt betrachtet hat mir dieses Kapitel recht gut gefallen. Die Texte sind allesamt gut geschrieben und sehr interessant, die darin enthaltenen Informationen brauchbar. Schön finde ich auch die kurzen Zitate, die man immer wieder am Seitenrand findet und die thematisch auf den Fließtext abgestimmt sind. Für sehr überflüssig halte ich allerdings die beiden Seitenbalken über die Lingua Urbana bzw. Hansa. Hier findet man Worterklärungen zu ebenjenen Themengebieten. Die Idee an sich mag vielleicht ganz gut erscheinen, doch in der hier zu findenden Ausführung sind die Seitenbalken überflüssig wie ein Kropf. Welchen tieferen Sinn hat es, noch einmal explizit zu erklären, was die Hasenhatz zu Nürnberg ist, wenn dies bereits im Fließtext geschieht? Wenn daneben Begriffe wie Urbanis-Liga oder Weißalpen stehen? Die Zusammenstellung wirkt willkürlich und lieblos, absolut überflüssig das Ganze.

 

Fazit für dieses Kapitel: Deutlich besser als Kapitel 1, die Ausführungen zu den drei Organisationen sind sehr schön geschrieben und sehr interessant. Kritikpunkte gab es nur kleinere, abgesehen von den absolut überflüssigen „Lingua..“-Seitenbalken.

Teilnote für dieses Kapitel: 4.4 (Seitenzahl: 32)

Kapitel 3: Musterstädte der Liga

Oder von den Auswüchsen modernen Denkens

Genug der Theorie, im folgenden Kapitel werden nun endlich ein paar Diadochenstädte vorgestellt, im Einzelnen Essen, die Doppelstadt Met-Nancy, Moskau und Wien. Der kundige Leser wird sich aber zwei Fragen stellen (vorab, Antworten konnte ich keine finden): Warum sind zwei der „Musterstädte der (Urbanis-)Liga“ gar nicht Mitglied derselben? Und wo ist Cordova? Denkt man doch beim Begriff „Urbanis-Liga“ als erstes an die florierende Diadochenstadt im Süden Urielslands. Warum man dann Cordova hier keinen eigenen Abschnitt spendiert hat, ist mir schleierhaft. Möglicherweise dachte man, dass die im Roman Homini Lupus und im Ordensbuch der Urieliten gegebenen Informationen ausreichen (was sie meiner Meinung nach nicht tun). Insgesamt halte ich die Auswahl der vorgestellten Städte aber nicht gerade für gelungen: Sicherlich, Essen, Moskau und Wien sind mit die wichtigsten Diadochenstädte Europas, Met-Nancy ist wegen des dort herrschenden Maschinenkults interessant, aber was ist mit den ganzen anderen Städten? Um einen guten Querschnitt durch die Diadochenlandschaft zu liefern, wäre es vielleicht ganz schön gewesen, neben den großen Metropolen auch kleinere Diadochenstädte vorgestellt zu sehen, die ja doch ihre ganz eigenen Probleme haben, der „Bedrohung“ durch die Kirche zu widerstehen. Aber genug von dem, was nicht da ist, denn das, was da ist, ist eigentlich recht ordentlich.

Die Beschreibung einer jeden Stadt ist in einzelne Abschnitte unterteilt: „Von der Stadt“ behandelt das äußere Erscheinungsbild, geht auf geographische Besonderheiten in der Umgebung, wichtige Merkmale der Stadt und ihrer Stadtviertel ein und stellt allgemein die Stadt so vor, wie sie ein Besucher wohl empfinden würde. Auch ein kurzer Einblick in Vergangenheit und Geschichte der Stadt wird hier gegeben. Im danach folgenden Abschnitt „Von den Menschen“ wird die Stadt dann belebt: Hier ist von den Herrschern die Rede, von den Gardisten und den einfachen Bürgern. Dabei wird vor allem auch auf die allgemeinen Lebensumstände eingegangen. Der letzte Abschnitt ist immer „Von den Waren“: Was wird in der Stadt produziert? Was importiert? Was findet man auf den Märkten? Dieser Abschnitt ist wichtig - auch vor dem Hintergrund der im vorigen Kapitel beschriebenen Neuen Hanse. Zusätzlich findet man bei jeder Stadt spielimmanente Texte: Zum einen einen Auszug aus dem Bericht des Fra Theodorus, Monach der Inquisition, der jedoch schon bei der zweiten Stadt langweilt, denn eigentlich steht dort immer nur „Alle Ketzer! Einnehmen!“ - und ein wenig Abwechslung wäre schön (vor allem, weil man hier wieder vor der Frage steht, ob nicht Codex Urbanis eigentlich die diadochische Sichtweise darstellen sollte). Besser sind da die Erzählungen des Strombranders, eines Abgesandten der Neuen Hanse. Insgesamt betrachtet gefällt mir aber dieses Schema nach dem die Städte behandelt werden. Es schafft Übersichtlichkeit und ist in sich auch logisch aufgebaut, so dass alle wissenswerten Aspekte besprochen werden können.

Nun zu den Städten selbst: Den Anfang macht Essen, die gabrielsländische Diadochenstadt. Umgeben von Schlickland, in dem sich immer mal wieder technische Artefakte aus der Zeit davor finden, wird die Stadt dominiert von riesigen Industrieanlagen, die der Gewinnung von Stahl und Säure dienen und die Stadt am Rheingraben zu einer wahren Wirtschaftsmacht machen, auf die selbst die Angelitische Kirche ohne Alternative angewiesen ist. Unumstrittener Herrscher ist der Diadoche Walter von Essen, der nicht nur die lokalen Industrieellen, die sogenannten Schlotbarone, im Zaum hält, sondern sogar Em Susat von Nürnberg dazu nötigte, persönlich nach Essen zu kommen, um seinen Treueeid zu empfangen. Die zweite Stadt, die Doppelstadt Met-Nancy, ist wohl der Alptraum jedes Angeliten: Nicht nur dass die Stadt unter der stahlharten und unterdrückenden Herrschaft des mysteriösen Kults der Maschine (und dessen Stroh-Diadochen Thomeas) steht, nein, in den ausgedehnten Kohleminen der Stadt müssen Kinder schuften. Kinder! Doch ist andererseits selbst die Kirche auf die Kohle aus Nancy angewiesen, und so bedient man sich Essens als Mittelsmann, um an den begehrten Rohstoff zu kommen ohne sein Gesicht zu verlieren. Ziemlich fragwürdig. Der nächste im Bunde ist eine weitere Industriestadt, nämlich Moskau. Auch hier floriert die Stahlindustrie (neben anderen Wirtschaftszweigen wie den riesigen Ölfeldern vor der Stadt), doch erhält die Stadt durch den fast in Sichtweite verlaufenden östlichen Brandlandkorridor eine einzigartige Atmosphäre, und so trifft man hier auf eine Vielzahl sogenannter Brandlandführer, die unter Zuhilfenahme technischer Apparaturen einen Vorstoß ins Brandland wagen. Die letzte vorgestellte Stadt ist dann Wien, die quasi-Hauptstadt der Urbanis-Liga. Wien ist allein schon dadurch besonders, dass der größte Teil der Stadt unter der Erde ist, ähnlich wie bei Cordova. Nur ein paar Gebäude, wie die oberen Ebenen der Hofburg, des Sitzes der Verwaltung, liegen über der Erde und sind im wuchernden Dschungel sichtbar.

Die Beschreibungen der Städte haben mir sehr gut gefallen. Von der Länge her genau richtig, erhält man einen sehr guten Überblick über die einzelnen Städte, sowohl in Hinsicht auf die Stadt selbst als auch was die Einwohner und ihre spezielle Situation in dieser Stadt betrifft. Der größte Kritikpunkt, den ich aber – neben der oben genannten Auswahl der Städte - an diesem Kapitel habe, ist das Fehlen von Karten. Warum hat man nicht wie bei den Ordensbüchern Tobias Mannewitz ein paar seiner hervorragenden Karten anfertigen lassen? Platzgründe? Die reine Beschreibung der Stadt(-viertel) ist zwar ganz nett, aber eine Karte wäre bei so etwas unübersichtlichem wie einer Stadt mehr als notwendig. Ganz großer Kritikpunkt, der auch zu einer massiven Abwertung führt.

 

Fazit für dieses Kapitel: Gute Beschreibungen der Städte, man erhält einen sehr guten Überblick über die Stadt und ihre Einwohner sowie deren spezielle Situation, die ja doch in jeder Stadt unterschiedlich ist. Das Ganze wird übersichtlich präsentiert. Kritik übe ich aber an der Auswahl der Städte (es hätten auch kleine Diadochenstädte besprochen gehört) sowie den fehlenden Karten (die dringend nötig gewesen wären und deshalb zu einer massiven Abwertung führen.

Teilnote für dieses Kapitel: 4.2 (Seitenzahl: 36)

Kapitel 4: Urbane Legenden

Oder von den alltäglichen Ängsten der Städter

Das folgende Kapitel ist sicherlich das Glanzlicht von Codex Urbanis, denn hier wird endlich noch einmal ein Haufen neuer Traumsaatkreaturen vorgestellt. Sehr gut finde ich, dass die Autoren wieder nicht einfach nur das Monster mit Statblock und zwei Zeilen Hintergrund präsentieren, sondern das Ganze wie schon beim hervorragenden Traumsaat, das ja in Form eines Reiseberichts eines Monachen verfasst ist, in einen spielimmanenten Text einbetten. Diesmal haben wir es mit dem „Bericht des Paulian Gregus, Schreiber und Gelehrter aus der Diadochenstadt Zurik, Besucher des ersten alleuropäischen Konventes der Diadochenstädte wider die Schrecken der Traumsaat in den urbanen Gebieten, Stanbul anno 2656“ zu tun, also diesmal nicht nur die Abhandlungen eines einzelnen, sondern das zusammengetragene Wissen vieler. Mich hat sehr gefreut, dass zu Beginn die Teilnehmer des Konvents über eben jenen Bericht des Fra Domenico diskutieren und ihn Punkt für Punkt durchgehen, so dass man zusätzlich zu den Informationen aus Traumsaat, das ja vor allem ländlichere Gebiete behandelt, nun auch urbane „Einsatzmöglichkeiten“ für die bekannten Kreaturen erhält. Sehr gut gelöst, wenn auch leider etwas kurz (was aber wohl nicht anders zu machen ist).

Im Folgenden werden dann die neuen Kreaturen behandelt, 12 an der Zahl plus zwei neue Krankheiten. Das Ganze geschieht, wie bereits gesagt, in Form eines Protokolls, das heißt, die Teilnehmer des Konvents berichten von ihren Erfahrungen mit den den anderen meist unbekannten Kreaturen. Die Kreaturen selbst stehen den altbekannten in Nichts nach. Man findet hier wieder die gewohnte Mischung aus großen, kleinen und riesigen Kreaturen, die alle sehr gut gelungen sind und die bekannten ruralen gut um urbane Gefahren ergänzen. Beschrieben werden zum Beispiel die Blutjungfer, eine wahre Albtraum-Kreatur, die ihren Opfern die Haut abzieht, diese selbst überstülpt und so neue Opfer anlockt, oder die Glut- und Säurebestien, große Käfer, die sich in Hochöfen und Säurebecken einnisten und so vor allem die Industriestädte terrorisieren, oder die im Schlick vor Essen lebenden Schlickschlinger, riesige Würmer, die schon so manches Mal der Tod einer Gruppe von Schlicksuchern waren.

Die Beschreibung jeder einzelnen Kreatur kann natürlich nicht so ausführlich und tiefgehend geschehen wie bei Traumsaat, wo auf den 120 Seiten nur um die 20 Kreaturen vorgestellt werden, doch denke ich, dass die Autoren hier einen guten Kompromiss gefunden haben. Beim Lesen des Textes fühlt man sich wirklich an den Ort des Konvents versetzt, die vielen eingestreuten persönlichen Be- und Anmerkungen des Verfassers hauchen dem Text sehr viel Leben ein und man bekommt einen sehr guten Eindruck von den neuen Kreaturen. Jede einzelne scheint ihre Berechtigung zu haben und mit sehr viel Liebe zum Detail gemacht worden zu sein, wie es schon bei Traumsaat der Fall gewesen war. Doch so ganz bleibt auch dieses Kapitel nicht von Kritik verschont: In Traumsaat wurden so ziemlich alle Kreaturen auch illustriert, in diesem Kapitel lediglich drei von zwölf. Einerseits kann ich es durchaus verstehen, denn es ist auch immer eine Frage des Platzes, und so eine Zeichnung nimmt gut und gerne eine Drittelseite ein, aber andererseits ist es schon schade, kann doch eine Illustration mehr transportieren als eine bloße Beschreibung und bei manchen Kreaturen wäre eine Zeichnung zur Visualisierung mehr als hilfreich gewesen. Die drei vorhandenen jedoch (von Eva Widermann gezeichnet) sind sehr schön, nicht ganz so skizzenhaft wie jene aus Traumsaat, passen sie hervorragend zum Rest des Buches. Sehr schön!

 

Fazit für dieses Kapitel: Sehr schöne neue Kreaturen, allesamt gut durchdacht und brauchbar, und das Ganze eingebettet in einen stimmungsvollen Text. Ein würdiger Nachfolger der Berichte des Frau Domenico. Wenn man denn etwas kritisieren möchte, dann dürfte es wohl die Kürze der einzelnen Beschreibungen sowie das Fehlen weiterer Bilder sein.

Teilnote für dieses Kapitel: 4.7 (Seitenzahl: 14)

Kapitel 5: Dramatis Personæ

Oder von den großen und kleinen Rädchen im Getriebe

Wie fast immer bildet den Abschluss des Buches (abgesehen von den Appendizes) ein Kapitel, in dem verschiedene Personen ausführlich beschrieben werden. Das entsprechende Kapitel in Codex Urbanis ist dabei zweigeteilt: Zuerst kommen verschiedene Diadochen, also die herrschende Elite, und dann, in der zweiten Hälfte, gewöhnliche Menschen „wie Du und Ich“, auf die man als normaler Besucher einer Stadt durchaus treffen könnte. Zu allen Personen findet man einen längeren Beschreibungstext, unterteilt in Hintergrundgeschichte, Aussehen und Wesen, sowie bei den Meisten noch einen kurzen Statblock im d20-System. Vorgestellt werden auf Diadochenseite Benren von Moskau, der verkrüppelte, von der Angelitischen Kirche betrogene Herrscher über die Metropole am Brandland, Bernjus von Aachen, Isabella von Cordova, das bildhübsche Gesicht der Urbanis-Liga, Lera von Wien sowie Walter von Essen, den einzigen in der Runde, der nicht der Urbanis-Liga angehört, sondern der Kirche die Treue geschworen hat und der dennoch vielen als Dorn im Auge des Gabrielis-Ordens gilt. Irgendwie jedoch konnte bei den Diadochenbeschreibungen nicht so recht der Funke überspringen: Vergleiche ich die Darstellungen der Diadochen beispielsweise mit denen der Kirchenfürsten aus den Ordensbüchern, so fallen die Diadochen bedeutend farbloser und uninteressanter aus. Man liest die Diadochentexte durch, zuckt mit den Schultern und sagt sich „Ja...und?“. Die Beschreibungen der Kirchenoberen habe ich quasi verschlungen, bei fast jedem fand sich mindestens eine Leiche im Keller, zu der mir direkt mehrere Abenteuer-Ideen kamen. Und bei den Diadochen? Nichts. Dazu kommt noch, dass die Beschreibungen von Benren von Moskau und Isabella von Cordova für jene, die die Romane Exodus und Homini Lupus gelesen haben, redundant sind, da deren Beschreibungen fast überhaupt keine weiterführenden Informationen beinhalten. Auch die anderen Diadochen können nicht überzeugen, was zum großen Teil wohl daran liegt, dass die Beschreibungen den Fokus zu sehr auf die Rekapitulation der Vergangenheit des Charakters legen. Bei den genannten Beschreibungen der Kirchenfürsten hatte man immer auch einen Ausblick auf zukünftige Handlungen, angedeutete Pläne des jeweiligen Charakters, quasi ein offenes Ende, in das man als Spielleiter einhaken kann (ich denke da z.B. an die Beschreibung von Ab Orpheo vom Sarielis-Orden, der derzeit unter Hausarrest steht und ein gefährliches Spiel hinter dem Rücken des Ordensprälaten Massimo die Terni spielt, hier kamen mir direkt mehrere Ideen, wie ich dies in meine eigene Kampagne hätte einbauen können, selbst ohne den Spielern direkten Kontakt zum Ab zu geben). Keine Frage, die Darstellung der Vergangenheit eines Charakters beleuchtet dessen Hintergrund sehr gut und ist für sich genommen recht nett, doch es fehlt eben dieses gewisse Etwas, das die Beschreibung zu mehr als nur Durchschnitt macht.

Die zweite Hälfte des Kapitels besteht dann aus „Menschen wie Du und Ich“. Insgesamt gesehen handelt es sich dabei um einen guten Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft: Man findet hier z.B. eine Kurtisane, einen mysteriösen „Hexer“, eine komplette Schauspielertruppe oder eine Ingenieurin aus Östersund. Die normalen Menschen haben mir schon besser gefallen als die Diadochen. Ich hatte bei allen den Eindruck, dass sie gut durchdacht waren, und hier stellten sich dann auch endlich wieder die oben genannten Abenteuerideen ein. So finde ich persönlich den Instrumentenbauer und Schriftsteller Andrasch sehr interessant (wenn ich über die Unlogik hinwegsehe, dass er als Angelit eigentlich nicht schreiben können dürfte, dicker Minuspunkt), der trotz der Tatsache, dass er für den Kardinal von Stuttgartia arbeitet, in seinen (unter falschem Namen verfassten) Theaterstücken gerne doppeldeutige Andeutungen unterbringt, die die Kirche und ihre Oberen verspotten. Doch eines Tages geht er nicht geschickt genug vor und wird enttarnt und gefangengenommen, jedoch kurz darauf befreit und nun befindet er sich auf dem Weg nach Wien. Hier ist auch die Querverbindung zu der später vorgestellten Schauspielertruppe interessant, die vorrangig eben die von Andrasch verfassten Stücke aufführt. Die Truppe selbst besteht aus sechs Personen, die allesamt ihre eigene Geschichte mit teils dunklen Kapiteln haben, wobei die gesamte Darstellung der einzelnen Schauspieler meiner Meinung nach auch etwas kürzer hätte sein können (auch der Name – „Possenposse“ – gefällt mir überhaupt nicht, aber niemand hindert mich ja daran, diesen einfach zu ändern). Für gut gelungen halte ich auch Bend, das Phantom von Essen, ein durch einen Arbeitsunfall entstellter Jugendlicher, der im Essener Untergrund eine Jugendbande anführt. Anders sieht es etwa bei Mellani, einer Abortionistin, aus. Mir fällt beim besten Willen keine Möglichkeit ein, wie ich einen solchen NSC in mein Spiel einbauen sollte.

Leider findet man auch in diesem eigentlich nicht schlechten Kapitel wieder diese kleinen Fehlerchen: So widersprechen z.B. die Informationen über die Kurtisanengilde, die bei Abellinias Beschreibung gegeben werden, denen aus dem ersten Kapitel (Wie kann „Vater“ ein Diamant sein, wo er doch männlich ist? Sind es Hämatite oder Saphire? Bernsteine oder Topase?). Und die Macher haben es mal wieder geschafft, die Endung „-el“ bei einem Namen einzubauen (woran auch das zweite „L“ nichts ändert und was umso befremdlicher erscheint, als dass Khalell anscheinend mal dem Angelitischen Glauben angehörte).

 

Fazit für dieses Kapitel: Die Beschreibungen der Diadochen können nicht wirklich überzeugen, entweder sind sie zu farblos oder überflüssig, weil bekannt (Isabella von Cordova und Benren von Moskau). Die normalen Personen hingegen sind schon besser geraten, wenn auch nicht alle. Insgesamt gesehen etwas besser als der Durchschnitt.

Teilnote für dieses Kapitel: 3.2 (Seitenzahl: 30)

Appendix 1: Werte und Prestigeklassen

Oder von den Möglichkeiten, die Städter in Spielwerte zu fassen

Das Buch schließt mit zwei Appendizes, in denen wie üblich die d20-Spielwerte für das vorher nur Beschriebene geliefert werden. Im ersten der beiden dreht sich alles um Grund- und Prestigeklassen, die ein urbaner Engel-Charakter ergreifen kann. Zuerst werden die beiden bereits aus Mater Ecclesia bekannten Grundklassen Gelehrter und Würdenträger noch einmal vorgestellt. Zwar wurden ihnen neue, einleitende Hintergrundtexte spendiert, die Regelwerte sind jedoch genau dieselben. Warum man diese noch Mal abgedruckt hat, ist mir schleierhaft, zumal auch immer wieder auf Mater Ecclesia verwiesen wird. Irgendwie inkonsequent und daher meiner Meinung nach verschwendeter Platz. Dann folgt jedoch mit dem Tierbändiger eine neue Grundklasse. Im Prinzip handelt es sich hierbei um den klassischen D&D-Druiden, jedoch auf Tiere und Traumsaat spezialisiert und natürlich ohne göttliche Zauber, dafür aber mit Tiergefährten (komplett mit Regelwerten findet man dort allerdings nur Falke und Hund, für weitere Tiere wird auf das D&D-Monsterhandbuch verwiesen). Die Boni, die er im Kampf gegen Traumsaatkreaturen erhält, wirken auf dem Papier recht stark, aber genau kann ich das aufgrund mangelnder Spielerfahrung mit Engel-d20 und seinem Powerlevel nicht beurteilen. Des Weiteren findet man in diesem Anhang noch zwei Prestigeklassen, nämlich den Scharfschützen und den Leibwächter. Beide sind – im Gegensatz zu den anderen Klassen – speziell auf urbane Szenarien zugeschnitten. Leider wurde den neuen Klassen nicht im Ansatz soviel Hintergrund spendiert wie den bereits bekannten. Zugegeben, ein Scharfschütze ist schon etwas speziell, aber man wird doch wohl mehr als drei Sätze Hintergrund finden können? Wie sieht die Ausbildung aus? Typische Einsatzgebiete? In welchen Städten findet man Scharfschützen überhaupt? Die Fähigkeiten selbst hingegen erscheinen stimmig, der jeweiligen Klasse gut angepasst und wirken auch nicht zu stark. Zusätzlich findet man auch ein paar schöne Illustrationen, nicht gefallen hingegen hat mir die teilweise etwas wirre Anordnung der Tabellen, Texte und Bilder auf den Seiten, das ist aber aufgrund der Betextung der Tabellen und Bilder nur ein kleines Manko.

 

Fazit für dieses Kapitel: Die drei neuen Klassen sind relativ nett, allerdings ist das erneute Abdrucken der bekannten Werte von Gelehrtem und Würdenträger Platzverschwendung. Zusätzlich fehlt mir mehr Hintergrund für die Prestigeklassen.

Teilnote für dieses Kapitel: 3,1 (Seitenzahl:12)

Appendix 2: Urbane Traumsaat

Oder wie man die urbanen Schrecken des Herrn der Fliegen in Spielwerte fasst

Der zweite Anhang befasst sich dann mit Dingen, die nur der Spielleiter zu Gesicht bekommen sollte, nämlich den d20-Werten der in Kapitel 4 vorgestellten Traumsaat-Kreaturen. Diese Trennung in zwei Appendizes halte ich für durchaus gelungen, werden so doch spieler- und spielleiterbezogene Informationen deutlich voneinander abgegrenzt. In diesem Kapitel findet man nur eine lange Reihe von Statblocks für die einzelnen Monster. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe mir nicht jeden Statblock eingehend angeschaut, sondern das Kapitel nur überflogen, da ich, wie bereits weiter oben gesagt, nicht die d20-Version von Engel spiele, so dass ich für dieses Kapitel keine eigene Note angebe. Zumal ich es auch für sehr schwer hielte, die Werte getrennt vom eigentlichen Monster bewerten zu wollen. Was mir jedoch beim Überfliegen aufgefallen ist, sind mal wieder kleinere Ungereimtheiten, z.B. beim Tränensammler: Dieser zieht aus den angeketteten Kindern keinen regeltechnischen Vorteil, obwohl er doch laut seiner Beschreibung in Kapitel 4 den Kindern ihre Lebensenergie entzieht, um selbst stärker zu werden.

Am Ende des Buches findet man dann noch einen neuen Charakterbogen für Engel, den ich allerdings nicht ganz verstehe. Auf der Doppelseite links findet man Fertigkeitenliste, Attribute, etc., also d20-Werte. Rechts findet man einen Block für Vorzüge und Schwächen des Charakters, also Arkana-„Werte“. Rechts finden sich auch Felder für Ausrüstung, Waffen und Manna, die im d20-Teil fehlen. Allerdings hat man auf beiden Seiten oben ein Feld für die grundlegenden Daten des Charakters (Name, Klasse, Geschlecht...). Was denn nun? Soll das ein d20-Bogen sein oder ein d20-Arkana-Hybrid-Bogen? Sehr merkwürdig, es wäre deutlich besser gewesen, den bereits bekannten Bögen aus dem GRW nur einen neuen Hintergrund zu verpassen als diese verwirrende, willkürlich wirkende Zusammenstellung als neuen Charakterbogen zu präsentieren.

 

Fazit für dieses Kapitel: Das Kapitel enthält nur die d20-Werte für die neuen Traumsaatkreaturen sowie einen verwirrenden neuen Charakterbogen, den ich persönlich sehr schlecht finde.

Teilnote für dieses Kapitel: entfällt (Seitenzahl:10, wird bei der Berechnung der Gesamtnote nicht mit einbezogen)

Fazit

Was soll ich nun abschließend zu Codex Urbanis sagen? Am Besten zitiere ich zu Anfang einmal den Klappentext: „[...] Dieses Buch beschreibt zahlreiche Diadochen in ihrer ganzen Bandbreite vom aufgeklärten Zweifler bis hin zum machttrunkenen Despoten und eröffnet neue Charaktermöglichkeiten, die die Engel-Spielwelt bereichern werden. Es befasst sich außerdem eingehend mit dem Alltag und den Lebensbedingungen in den kirchenfernen Städten und wirft einen genauen Blick auf die verbotenen Technologien, die den Schrottbaronen zu Gebote stehen.“ Dieser Text war schon vor der Veröffentlichung bekannt und hat so gewisse Erwartungen bei den Engel-Fans geschürt. Nur kann das Buch seine Versprechen nicht halten: Es werden ein paar Diadochen vorgestellt, aber wo ist der angepriesene „aufgeklärte Zweifler“? Wo der „machttrunkene Despot“? Die vorgestellten Diadochen sind weder das eine noch das andere (und zudem viel zu farblos). Die erwähnten „neuen Charakteroptionen“ sind sicherlich da, doch nicht so zahlreich, wie man vielleicht denken würde (und der d20-Teil ist für Arkana-Spieler sowieso nicht gerade interessant). Der Alltag und die Lebensbedingungen werden wirklich ausführlich dargestellt, auch wenn das erste Kapitel, welches sich hauptsächlich damit befasst, eine einzige Katastrophe ist: Durchsetzt von Fehlern, oberflächlich und merkwürdig, kann es kaum an die Qualität der vorherigen Engel-Bücher anknüpfen. Teilweise musste ich mich echt fragen, ob das wirklich wahr ist, was ich da lese (ich erwähne hier nur die lächerliche Echsenwährung). Auch die „verbotenen Technologien“ habe ich vergebens gesucht. Zusammenfassung: Genauso viele enttäuschte wie erfüllte Erwartungen. Was soll das? Warum bewirbt man ein Produkt mit etwas, das gar nicht enthalten ist?

Zurück zum Buch selbst: Nach dem miserablen (so kann man das Kapitel im Vergleich nur nennen) Beginn geht es doch einen Tacken besser weiter, denn die Informationen über die drei verschiedenen nicht-kirchlichen Organisationen sind recht ansehnlich. Auch die vorgestellten Diadochenstädte können durchaus überzeugen (abgesehen von den Kritikpunkten der fehlenden Karten und der Auswahl der Städte), was den vorgestellten Personen hingegen nicht gelingt. Bei diesen war ich von den bekannten Engel-Büchern deutlich besseres (will heißen: interessanteres und für das Spiel brauchbareres) gewohnt. Glanzlicht von Codex Urbanis ist sicherlich das Kapitel über Traumsaat, welches fast („fast“ wegen der leider unvermeidlichen Kürze der Beschreibungen) an das hervorragende Traumsaat heranreichen kann.

Woran liegt es nun, dass Codex Urbanis in weiten Teilen nicht an die Qualität der vorhergehenden Publikationen heranreichen kann? Zum einen sicherlich an dem neuen Autorenteam, das die Arbeit ihrer Vorgänger nicht adäquat fortsetzen kann. Feder&Schwert ist ein Wagnis eingegangen, sich ganz neue Autoren für dieses Buch zu holen, und ich würde zwar nicht behaupten wollen, dass der Versuch grundlegend gescheitert ist – immerhin gibt es ja auch sehr gute Passagen -, allerdings erhoffe ich mir von den Autoren, dass für zukünftige Werke die im Verlaufe der Rezension (vor allem beim ersten Kapitel) genannten Kritikpunkte angegangen werden. Das Potential ist auf jeden Fall da (ich glaube nämlich nicht, dass O. Hoffmann, O. Graute und K. Meyer untalentierte Leute an ihr ureigenstes „Baby“ gelassen hätten). Woran liegt es noch? War es der Zeitdruck? Dass das Buch immer wieder verschoben und irgendwann doch einmal fertig werden musste? Vielleicht auch der fehlende Platz, denn es wirkt stellenweise so, als hätte man zuviel auf zuwenig Raum beschreiben müssen. Überhaupt der Platz: Hätte man Codex Urbanis so viele Seiten spendiert wie Mater Ecclesia (also 192 statt 168), so hätte man vielleicht auch die von mir so schmerzlich vermissten Karten der Diadochenstädte einbringen können oder mehr Bilder von Traumsaatkreaturen. Aber es ist müßig, jetzt darüber zu spekulieren, was hätte sein können. Das Endprodukt liegt nun einmal vor und muss als solches bewertet werden.

 

Die Gesamtnote, die ich Codex Urbanis gebe, setzt sich aus den Teilnoten für die einzelnen Kapitel zusammen, jeweils gewichtet mit der Länge des Kapitels. So komme ich unterm Strich auf eine Gesamtnote von 3.6, womit sich das Buch weit hinter die bereits existierenden Engel-Bücher einreiht. Das und der doch recht hohe Preis von 30,95 € sorgen dafür, dass das Buch wohl nur denjenigen bedenkenlos zu empfehlen ist, die eine Kampagne in einer Diadochenstadt leiten und/oder unbedingt mehr darüber erfahren wollen.