Links zur Rezension InhaltEs ist eine Geschichte über drei Frauen – Großmutter, Tochter, Enkelin – die allesamt mit Indien verbunden sind. Von der Kolonialzeit bis zur Generation der Hippies wird ein erzählerischer Bogen gespannt, der den Leser mitreißt. Die Großmutter Amelia Harryson ist mit ihrer Tochter Emy im Jahre 1928 nach Indien aufgebrochen, um mit ihrem Mann, Captain Thomas Harryson, zusammenzutreffen, der dort für das britische Militär in den Diensten des Maharadschas von Kalapur, Dharam Singh, tätig ist. Hin- und her gerissen zwischen Faszination und Abscheu dem neuen Land gegenüber verfällt Amelia bald dem Charme des Maharadschas und es bahnt sich eine zärtliche aber verbotene Liebesbeziehung zwischen den beiden an. Thomas Harryson kommt unter mysteriösen Umständen ums Leben und der Maharadscha muss abdanken.
Während ihre Mutter in Indien bleibt, sorgen nicht zuletzt die kulturellen Unterschiede dafür, dass Emy nach England zurückkehren muss. Als mittlerweile erwachsene Frau wird Emy inmitten der Wirren des zweiten Weltkriegs im zerbombten London im Winter 1944 von ihrer Vergangenheit eingeholt, durch Jarawal, den Sohn von Dharam Singh, den sie bereits seit Kinderzeiten kennt. Sie nimmt dies zum Anlass für eine Reise nach Indien, um zu verstehen, was damals geschehen ist. Doch auch ihr gelingt es nicht, allen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Erst ihrer Tochter Kamala soll es viele Jahre später gelingen, die fehlenden Details der Familiengeschichte ausfindig zu machen und die Puzzle-Stücke der Vergangenheit zu einem Ganzen zu verbinden.
Qualität, Stil & ÜbersetzungDas französische Paar Maryse Charles (Text) und Jean-Francois Charles (Zeichnungen) haben sich bereits mit realistischen Comic-Erzählungen wie „Die Pioniere der neuen Welt“ und „Zehn Gebote“ einen Namen gemacht. Nun liegt mit „India Dreams“ die ursprünglich als vierbändiges Comicwerk angelegte grandiose Familiensaga als SplitterBook vor.
Unübersehbare Inspirationsquelle dieser Erzählung dürfte sicherlich das filmische Vermächtnis von David Leans „Eine Reise nach Indien“ aus dem Jahr 1984 nach dem Roman von E.-M. Forster und die persönliche Begegnung des Paares mit dem ewigen Indien sein. Neben der Erzählung - die weit mehr ist, als nur eine banale Liebesgeschichte und mit einigen Überraschungen aufwarten kann - dürften mit Sicherheit die Zeichnungen von J. F. Charles im Vordergrund stehen, da die von ihm gewählte aquarellierte Direktkolorierung die Schönheit von Indien wunderbar zur Geltung kommen lässt, zumal es ihm immer wieder gelingt, faszinierende und großartige Impressionen des unbekannten Indiens einzufangen und in Szene zu setzen.
Als Zugabe gibt es in diesem Band einen kurzen einleitenden Text, der mit äußerst schönen Skizzen und Illustrationen versehen die malerisch-bedrohliche Kulisse von Indien einfängt und dem Leser einen Blick über die Schulter des Zeichners aber auch der Autorin bei ihrem Schaffen gibt. Ein weiteres kleines Extra ist das ausklappbare Cover als erstaunlich erotisches „Centerfold“ – eine schöne und überraschende Idee, aber leider nicht heraustrennbar.
FazitMit „India Dreams“ hat der Splitter Verlag einen atmosphärisch sehr dichten Band in der Reihe „SplitterBooks“ vorgelegt, der die unterschiedlichen Grundstimmungen der westlichen und indischen Kultur sehr gut in einer interessanten Geschichte einfängt. Zwar erscheinen die Sprünge in den drei Zeitebenen zwischen den Protagonistinnen manchmal etwas willkürlich, sind aber insgesamt der Atmosphäre und dem Handlungsverlauf nicht abträglich.
Auch wenn der Begriff „Graphic Novel“ in den letzten Jahren etwas überstrapaziert wurde und bei jeder sich passenden (oder auch unpassenden) Gelegenheit Verwendung fand, dürfte dieser Begriff bei „India Dreams“ vollkommen berechtigt sein. Welcher Comic vermittelt uns noch das überaus seltene Erlebnis einer sinnlichen Liebesgeschichte, die sich in einem angenehmen Tempo entwickelt und so imposant in Szene gesetzt wird. Nicht zuletzt wegen seiner Kolorierung wäre der Band im „normalen“ Splitter-Format eine sicherlich eine noch größere Augenweide gewesen, doch man hat es letztlich geschafft, das optimale an Qualität bei der Größe des Formats heraus zu holen.
Für den Genuss dieser Geschichte empfehle ich dem geneigten Leser ausreichend Zeit und Muße, um mit auf eine Reise durch fast 100 Jahre indischer Kultur zur kommen, die den Leser durch das Indien der Maharadschas während der Kolonialherrschaft über die 70er Jahre bis hin zur Gegenwart führt. Wer vielleicht jetzt noch ein wenig die Nase rümpft, da es sich ja scheinbar nur um eine Liebesgeschichte handelt, den kann ich an dieser Stelle beruhigen – es verbirgt sich einiges mehr in diesem Band!
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