Links zur Rezension Link zur Leseprobe auf der Homepage des Lübbe-Verlags
Ganze 18 Jahre mussten Fans von „Die Säulen der Erde“ (Originaltitel „The Pillars of the Earth“) warten, bis endlich die Fortsetzung „Die Tore der Welt“ (Originaltitel „World without End“) Anfang 2008 auf Deutsch erschien. Die Erwartungen an den Autor Ken Follett waren sehr hoch – schließlich war ihm, der sich vorher vor allem mit zeitgenössischen Thrillern verdient gemacht hatte, mit „Die Säulen der Erde“ ein Meisterwerk gelungen, das die Bestseller-Listen im Sturm nahm und nun sogar verfilmt werden soll. „Die Tore der Welt“ wurde nun vollmundig als „lang ersehnte Fortsetzung“ angekündigt, doch stimmt das nur halb, denn zwischen beiden Büchern liegen gute 150 Jahre. „Die Säulen der Erde“ endet 1173 – die Kathedrale von Kingsbridge ist von Jack Builder vollendet worden und Philip Bischof von Kingsbridge – und „Die Tore der Welt“ beginnt im Jahre 1327. Follett betont zudem, dass er keinen weiteren Roman über den Kathedralenbau schreiben wollte. Wer also mit einem „Säulen der Erde 2“ rechnet, der wird sicherlich enttäuscht werden, denn das will der Roman auch gar nicht sein. Man sollte eher eine neue Geschichte „im selben Setting“ erwarten.
Erster Eindruck; Aufmachung und GestaltungAls ich das dicke Päckchen mit dem Buch öffnete, war ich zunächst etwas erschlagen. Was für ein Wälzer! Knapp 1300 dicht bedruckte Seiten, verpackt in einen stabilen Leinen-Einband. Die Cover-Gestaltung ist nur mit einem Wort zu beschreiben: Wunderschön. Auf pergamentfarbenem Hintergrund finden sich skizzenhafte Bauzeichnungen (auch der Leineneinband selbst ist mit einer solchen bedruckt), eingerahmt vom Namen des Autors und dem Buchtitel. An weiteren optischen und haptischen Gestaltungselementen wird nicht gespart, man findet sowohl eine goldartig-glänzende Farbe und pflanzenartige Friese an den Rändern als auch reliefartig hervorgehobene Schrift.
Auch innen setzt sich die schöne Gestaltung fort. Auf den Innenseiten des Umschlags findet man eine doppelseitige Farbzeichnung von Kingsbridge nebst Stadtplan und Plan der Priorei. Auch wenn diese Pläne nicht ganz mit den Beschreibungen im Roman selbst übereinstimmen, vor allem was die Proportionen und Größenverhältnisse angeht, ist sie doch sehr schön anzuschauen. Die einzelnen Teile des Buchs werden durch doppelseitige Zeichnungen (ebenso wie die Umschlagszeichnung aus der Feder von Jan Balaz) eingeleitet, die jeweils einzelne Szenen aus den Kapiteln aufgreifen und die Atmosphäre hervorragend einfangen. Das alles ist – gestochen scharf in gut lesbaren Lettern und mit nicht-verwischender Tinte - auf hochwertiges, glattes Papier in einem leichten Gelbton gedruckt. Und der Lübbe-Verlag hat dem Buch nicht nur ein, sondern gleich zwei Lesebändchen spendiert.
Für Liebhaber schöner Bücher ist „Die Tore der Welt“ auf jeden Fall ein Leckerbissen, dessen wunderschöne Optik verbunden mit der hohen handwerklichen Qualität alleine fast schon den Kauf rechtfertigt.
InhaltDer Versuch, eine Handlung von 1300 Seiten auch nur im Ansatz zusammenzufassen, ist natürlich ein sinnloses Unterfangen - ganz zu schweigen von der Gefahr, durch die Vorwegnahme der vielen plötzlichen Wendungen in der Handlung den Lesespaß zu mindern. Aus diesen Gründen beschränke ich mich bei der Beschreibung der Handlung lediglich auf die Wiedergabe des Klappentextes:
Wir schreiben das Jahr 1327. Es ist der Tag nach Allerheiligen. In der Stadt Kingsbridge im Süden Englands versammelt sich das Volk im Schatten der Kathedrale. Vier Kinder flüchten vor dem Trubel in den nahe gelegenen Wald. Dort werden sie Zeugen eines Kampfes – und eines tödlichen Geheimnisses.
Merthin, ein Nachfahre von Jack Builder, dem Erbauer der Kathedrale, hat dessen Genie und rebellische Natur geerbt. Sein starker Bruder Ralph strebt den Aufstieg in die Ritterschaft an. Caris, Tochter eines Wollhändlers, hat den Traum, Arzt zu werden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Gwenda, deren Vater ein Tagelöhner ist, will nur ihrer Liebe folgen.
Und da ist da noch Godwyn, Caris‘ Vetter, ein junger Mönch, der entschlossen ist, Prior von Kingsbridge zu werden. Koste es, was es wolle.
Ehrgeiz und Liebe, Stolz und Rache werden das Leben dieser Menschen bestimmen. Pest und Not werden ihnen das Liebste nehmen, was sie besitzen. Glück und Unglück werden sie begleiten. Doch sie werden die Hoffnung niemals aufgeben. Und immer wird der Schwur sie verfolgen, den sie an jenem schicksalhaften Tag leisteten.
Und damit ist eigentlich die Handlung auch schon gut zusammengefasst – Ken Follett schickt seine Protagonisten auf eine wahre Achterbahnfahrt: Ständig schlägt das Schicksal zu, mal mit gutem Ausgang, oft mit schlechten. Man kann sich nie sicher sein, dass Pläne, die auf einer Seite geschmiedet werden, nicht schon zehn Seiten später durch eine plötzliche Wendung zunichte gemacht werden und es gibt eine Vielzahl an kleinen Handlungssträngen, die teils parallel ablaufen, teils nacheinander abgeschlossen werden, und von denen viele miteinander verwoben sind. Daraus zieht das Buch einen Großteil seiner Spannung und das macht den Stil Folletts auch aus – es täuscht aber nicht hinweg über das Fehlen einer großen, das ganze Buch umfassenden Haupthandlung. Bei „Die Säulen der Erde“ war es klar, die Haupthandlung war der Bau der Kathedrale, der über die ganze Handlung hinweg auch Hauptthema blieb und nur selten in den Hintergrund trat. Bei „Die Tore der Welt“ fehlt ein solches Hauptthema, quasi der „rote Faden“. Es gibt natürlich unter der Vielzahl an Handlungssträngen manche, die mehr im Fokus stehen als andere (bspw. der Bau der neuen Brücke, der Bau des Hospitals, die Pest oder der 100-jährige Krieg), aber diese ziehen sich kaum über mehr als einen Teil der Handlung. Auch jener im oben zitierten Klappentext erwähnte Schwur, den die Protagonisten anfangs leisten (und der eine weitere Parallele zu „Die Säulen der Erde“ darstellt; man erinnere sich nur an den Meineid, der Jacks Vater an den Galgen brachte; trotz dieser Parallelen muss man aber „Die Säulen der Erde“ nicht gelesen zu haben, um der Handlung zur Gänze folgen zu können), kann nicht als roter Faden bezeichnet werden, denn dazu tritt er viel zu lange in den Hintergrund und wird nur ab und zu einmal kurz erwähnt. Das ist alles zu wenig, und so kam es mir beim Lesen an wenigen Stellen auch so vor, als würde die Handlung nur belanglos vor sich hin mäandern, mal hierhin, mal dorthin – dieses Gefühl hielt aber nie länger als bis zur nächsten Seite an.
Eine besondere Stärke Folletts ist zudem die Ausarbeitung der Charaktere – und damit meine ich nicht nur die kleine Gruppe an Protagonisten, sondern vor allem die kleinen, unbedeutenden Neben-Charaktere. Der Autor schafft es, jedem einzelnen Leben einzuhauchen, sei es der Richter, der ein Todesurteil über Gwendas Sohn sprechen soll oder auch nur ein x-beliebiger Bauer, der auf irgendeinem Markt seine Waren verkauft, niemand bleibt farblos – und vor allem: Jeder besitzt nachvollziehbare Motive für sein Handeln, von den unbedeutenden Neben-Charakteren bis zu den Protagonisten selbst. An keiner Stelle dachte ich mir „Hä? Wieso hat er jetzt dies getan und nicht jenes?“. Manchem mögen aber vielleicht die Protagonisten auf der Gut-Böse-Achse zu eindeutig festgelegt sein. Ralph, Godwyn, Philemon sind eindeutig böse, Merthin, Caris und Gwenda eindeutig gut, fertig. Doch der Eindruck täuscht, keiner tut irgendetwas, nur weil es eben „die gute/böse Option“ ist, sondern wie gerade geschrieben besitzt jeder seine eigenen Motive, aus denen heraus gehandelt wird. Seien es dabei pervertierter Ehrgeiz, Rachegelüste oder der innere Drang, anderen Menschen zu helfen, die Pest zu überstehen. Dennoch, große moralische Dilemmas in der Grauzone zwischen Gut und Böse sollte man nicht erwarten, so etwas will der Roman schließlich auch gar nicht liefern.
Bei all dem bedient sich der Autor eines klaren, beschreibenden Stils ohne große Schnörkel, der es aber dennoch schafft, Emotionen zu wecken. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir da zwei Szenen, einmal die Rückkehr Merthins nach Kingsbridge nach langen Jahren Exil in Florenz, und zum anderen die Begegnung Caris‘ und einer anderen Nonne mit einer alten Frau im kriegsverwüsteten Frankreich. Und obwohl beide Szenen nicht länger als ein, zwei Seiten dauern bleiben sie doch im Gedächtnis haften, hier zeigt Follett sein ganzes Können als Autor. Das soll jetzt natürlich nicht heißen, dass man die Fähigkeiten des Autors, mit Worten umzugehen, nicht auch im Rest des Buches spüren würde, ganz im Gegenteil. Erwähnt seien hier z.B. die schnörkellosen Beschreibungen eines Kampfs zwischen englischen und französischen Soldaten, die Darstellung der Pest und ihrer Folgen (i.e. die zunehmende „Weltuntergangsstimmung“, der moralische Verfall, etc.) oder auch die ausführlichst beschriebenen Sexszenen. Hierzu sei am Rande bemerkt, dass es davon wirklich viele gibt – alle paar Seiten wird geknutscht, gefummelt und gefickt, freiwillig und unfreiwillig. Mir persönlich ist das etwas zu häufig, schließlich lese ich ja kein Handbuch über Sex im Mittelalter – aber letztendlich ist das wohl Geschmackssache.
Nicht unerwähnt bleiben sollte zum Abschluss dieses Abschnitts, dass Ken Follett seinen Roman sehr gründlich recherchiert hat, was man dem Buch dann auch anmerkt. Natürlich ist „Die Tore der Welt“ immer noch ein Roman (und will als solcher vor allem unterhalten) und keine wissenschaftliche Abhandlung - etwa über die Pest, die einen großen Teil der Handlung bestimmt - aber dennoch ist es interessant zu wissen, dass bspw. eine beschriebene Schwäche im Fundament der Kathedrale von Kingsbridge einem realen Vorbild folgt und der Autor extra nach Spanien gereist ist, um sich das selbst anzusehen.
ÜbersetzungUm die Arbeit der beiden Übersetzer Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt bewerten zu können, habe ich mir einen Auszug aus dem englischen Text angesehen (wer dasselbe tun möchte: der Link findet sich am Ende der Rezension, ebenso wie der Link zu einer Leseprobe der deutschen Ausgabe) und verglichen. Dabei fiel mir auf, dass die Übersetzer sich nicht sklavisch an die Vorlage hielten und Satz für Satz übersetzten, sondern beispielsweise die Reihenfolge mancher Sätze änderten oder zusätzliche Worte einfügten – insgesamt sind die Änderungen am Originaltext aber sehr behutsam und vor allem eines: gut, denn sie bügeln kleinere Ungereimtheiten im Originaltext aus (bspw. wird im Original direkt am Anfang die Erläuterung zu Philemons Namen nicht bei der ersten Erwähnung des Namens gegeben sondern später, wo sie etwas aus dem Zusammenhang gerissen wirkt; in der deutschen Version ist das nicht der Fall).
Was die Sprache angeht, so steht man bei einem Historischen Roman als Verfasser bzw. Übersetzer immer vor einer Gratwanderung: einerseits nicht zu „modern“, denn das stünde im krassen Gegensatz zur Handlung, andererseits aber auch nicht zu „altertümlich“, denn das ist für heutige Leser meist nur schlecht lesbar. Diese Gratwanderung haben die Übersetzer geschafft, der Text liest sich gut und flüssig und fängt auch die Atmosphäre jederzeit ein. Dazu trägt auch bei, dass die Autoren sämtliche Eigennamen nicht übersetzten, auch die „sprechenden“ - manchem mag es etwas aufstoßen, in einem deutschen Text ständig über englische Worte zu stolpern, aber ich finde es gut, denn schließlich spielt die Handlung ja in England.
Auch das Lektorat hat ganze Arbeit geleistet. Mir sind beim Lesen nur sehr wenige Fehler oder Inkonsistenzen aufgefallen (gerade einmal „dass“ statt „das“ und zwei Namen, die an einer Stelle übersetzt wurden, obwohl sie vorher un-übersetzt auftraten) – und das ist angesichts der Länge des Textes eine beachtliche Leistung. Da bin ich (leider!) schon ganz andere Sachen gewöhnt, so dass es sich lohnt, die Sorgfalt des Verlags an dieser Stelle etwas hervorzuheben.
Fazit:Was bleibt nun also übrig? Kann „Die Tore der Welt“ mit dem großen Vorgänger „Die Säulen der Erde“ mithalten? Das ist schnell zu beantworten: „Die Tore der Welt“ braucht sich sicherlich nicht zu verstecken, ich würde beide Romane sogar auf eine Stufe stellen.
„Die Tore der Welt“ hat alles, was einen guten historischen Roman ausmacht: Eine spannende, temporeiche, Handlung, in der man als Leser schon nach wenigen Seiten mittendrin ist. Ein sich schnell entfaltendes Netz aus vielen, vielen Handlungssträngen, die alle irgendwie miteinander verwoben sind. Gut ausgearbeitete Charaktere, mit denen man wirklich mitfühlen kann und die stets nach für den Leser nachvollziehbaren Motiven handeln. Eine dichte Atmosphäre, die einen wirklich ins England des 14. Jahrhunderts eintauchen lässt. Das alles verbunden mit dem klaren, treffsicheren Stil Ken Folletts – die auch in der sehr gelungenen und flüssig lesbaren Übersetzung nicht verloren geht, ja stellenweise sogar verbessert wird – bringt ein Buch hervor, das einem beim Lesen wirklich Spaß bereitet, einen echten „Page-Turner“.
Natürlich gibt es auch Kritikpunkte, allen voran das Fehlen einer prominenten Haupthandlung, die sich durch das ganze Buch zieht, das stellenweise Dahindümpeln der Handlung ohne erkennbares Ziel, oder auch die vielleicht etwas zu starke Festlegung einzelner Protagonisten auf der Gut-Böse-Achse, doch wiegen diese Punkte nur sehr wenig – beim Lesen haben sie mich jedenfalls kaum gestört, ich habe die 1300 Seiten förmlich verschlungen. Ich habe lange Zeit kein Buch mehr in Händen gehabt, das mich so gefesselt hat.
Aus diesen Gründen vergebe ich dann auch letztlich die Traumnote von 4,7 und spreche damit eine klare Empfehlung aus: Für Fans historischer Romane ist „Die Tore der Welt“ sicherlich ein Pflichtkauf, und selbst wer mit dem Genre nicht so vertraut ist und einen Einstieg sucht, der ist mit diesem Buch sicher nicht schlecht bedient. Auch der Preis von 24,95€ ist für diese opulent ausgestattete und dekorierte Hardcover-Ausgabe auf jeden Fall gerechtfertigt und meiner Meinung nach eine lohnende Investition.
|
||||||||||||||||||||