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Peter Pan 1 - London
Bewertung:
(4.2)
Von: Jörg Deutesfeld
Alias: Debaser
Am: 30.08.2009
Autor:Autor/Zeichner: Régis Loisels
Übersetzer:Eckart Sackmann
Typ:Graphic Novel / Comic
VerlagEhapa Comic Collection
ISBN/ASIN:978-3-7704-0840-5
Inhalt:48 Seiten, Softcover
Preis:10,00 EUR
Sprache:Deutsch

An Interpretationen von James Mathew Barries legendären Kinderbuchklassiker „Peter Pan“ gab es seit seinem Erscheinen bzw. seit seiner Premiere als Theaterstück noch nie einen Mangel und so schließt sich auch der Autor und Zeichner Régis Loisel diesem Reigen an, wobei er sich allerdings in einer kurzen Widmung für die klassische Disney-Verfilmung des Jahres 1953 bedankt und seine Adaption als lediglich „Frei inspiriert“ durch die Charaktere des schottischen Autors Sir James Matthew Barrie bezeichnet.

 

Doch was Régis Loisel in dem ersten Band der auf sechs Bände angelegten Comicadaption zeigt, ist eine gänzlich neue und andere Version der Geschichte, als man sie bislang aus Büchern, Verfilmungen und Theateradaptionen kennt: Mit der Fassung von Loisel bekommt der Leser den Auftakt für ein mal poetisches, mal trauriges, aber in jeder Hinsicht epochales Comic-Kunstwerk in die Hände gelegt.

 

Inhalt:

Loisel siedelt seine Geschichte in einem winterlichen London des Jahres 1887 an, das beherrscht ist von Kälte, Hunger und Elend. Das dunkle Erscheinungsbild der Stadt setzt er hierbei in den Panels der ersten Seiten eindrucksvoll in Szene, umdann die eigentliche Handlung aufzunehmen.

 

Die Geschichte beginnt damit, dass Peter den Jungen vom Waisenhaus durch einen Bretterzaun zunächst einen Teil des Märchens von Aschenputtel erzählt. Angestachelt von den Waisenkindern erzählt Peter den Kindern aber auch von der geradezu traumhaften Vorstellung „einer Mutter“. Während er munter in den schönsten Tönen am erzählen ist, gesellt sich eine kleine Katze zu ihm, mit der er beiläufig spielt und sie liebevoll streichelt. Und hier gibt es einen ersten brutalen Bruch, als Peter seine Erzählung beendet und die Waisenjungen fort sind - er gibt der Katze einen groben Fußtritt und beschimpft sie.

 

Spätestens hier wird dem Leser deutlich, dass es in dem von Loisel skizzierten London bei den ärmsten der Armen keinen Platz für Liebe, Sentimentalität und Träume gibt und die Figur des „Peter“ noch lange kein „Peter Pan“ ist. Der Unterschicht bleibt lediglich der Kampf ums eigene Überleben und die Befriedigung der eigenen niederen Begierden (denen wir später noch begegnen sollen). Man sollte sich also spätestens hier auf weitere, zum Teil grausame Szenen und deprimierende Zustände einstellen, denen Loisel in diesem Band nur selten stille und schöne Momente entgegenhält.

 

Im Gegensatz zu den Waisenkindern hat Peter allerdings eine Mutter und macht sich nach dem Weggang der Kinder vom Waisenhaus ebenfalls auf den Heimweg. Unterwegs trifft er auf seinen väterlichen Freund, Mister Kundal, der sich seit einigen Jahren um ihn kümmert und ihm das Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht hat. Nach einem gemeinsamen Essen und Gespräch mit Mr. Kundal in einem schäbigen Pub macht sich Peter wieder weiter auf den Weg.

 

Zu Hause angekommen ist Peters Mutter wie so oft sturzbetrunken und nötigt ihren Sohn auf brutale Art und Weise, ihr eine Flasche Brandy zu besorgen. Da Peter keinen einzigen Penny sein eigen nennt, verhöhnt ihn seine Mutter zudem: Zur Not solle er bei Mr. Kundal seinen Arsch einsetzen um ihr Brandy zu besorgen. Im einsetzenden Schnee des nächtlichen London macht sich Peter wieder auf, um in einem Pub eine Flasche Brandy zu besorgen und verflucht seine Mutter hierbei aufs übelste.

 

Peter schafft es letztlich, seiner Mutter eine Flasche Brandy zu besorgen, doch der Preis den er hierfür zahlen muss ist hoch. Da er keinen einzigen Penny in der Tasche hat, wird er auf Drängen des Wirtes und der grölenden Gäste genötigt sich zu entblößen, um hiermit sein Geld für eine Flasche Brandy zu verdienen.

 

Mister Kundal wird durch ein Fenster am Pub Zeuge dieser erniedrigenden Szene, doch es ist bereits zu spät. Er kann Peter lediglich ein Stück des Weges begleiten und erzählt ihm von seinem verstorbenen Vater und noch einiges mehr über seine Vergangenheit. Zum Schluss des Gespräches überreicht Mr. Kundal Peter ein Buch über griechische Mythologie, welches einst seinem Vater gehört hat.

 

Auf seinem weiteren Weg nach Hause entgeht Peter in den dunklen Straßen Londons nur knapp einer Vergewaltigung durch „Einarm“, einen Gast, der durch die Aktion im Pub angestachelt wurde, doch dies war noch nicht alles. Peter muss auch noch vor einem bissigen Hund flüchten und kurz vor Erreichen der sicheren Haustür fällt ihm die Flasche Flasche Brandy aus der Hand und zerschellt auf die Treppenstufen. Um seiner vor Wut rasenden Mutter zu entgehen, flieht Peter in die Nacht zurück.

 

Als Quartier für die Nacht sucht sich Peter einen abgelegenen Platz im Hafen und liest in dem Buch seines Vater. Doch die vermeintliche Ruhe hält nicht lange vor: Aufgeschreckt durch eine vermeintliche Sternschnuppe, die sich als kleine Fee entpuppt, lernt Peter das Fliegen und seine Reise in eine andere Welt beginnt. Doch aufgewacht aus seinen Träumen und den Strapazen der Reise, findet sich Peter geradewegs in der Kajüte des Kapitän Hook wieder und das eigentlich große Abenteuer liegt noch vor ihm.

 

Schreibstil & Artwork:

Der schottische Schriftsteller Sir James Matthew Barrie hat mit der Figur des Peter Pan einen Mythos erschaffen, derinnerhalb kürzester Zeit nicht nur in der Literatur, sondern auch auf der Bühne oder in seiner filmischen Umsetzung zum allgemeinen und internationalen Kulturgut avancierte. Dabei stand allerdings zumeist eine durchaus kindgerechte Fassung eines modernen Märchens im Vordergrund, die von einem Jungen berichtete, der nie erwachsen werden wollte.

 

Loisel hat seine Comic-Adaption dieser Geschichte mit Sicherheit nicht für Kinder geschrieben, da Gewalt, Kriminalität und Sexualität bei ihm auf sehr drastische und bedrückende Weise dargestellt werden. Gerade diese Szenen sind es aber, in denen viel über die ursprüngliche Gestalt von Peter Pan zu spüren ist, da die Geschichte von Peter Pan letztlich von einem Kind handelt, das nicht erwachsen werden will und dabei die Unschuld und Sorglosigkeit der Kindheit verkörpert, die Lust an imaginären und oft gewalttätigen Abenteuern hat, ohne Sorge oder Verständnis für echte Gefahren und echtes Leid aufzubringen.

 

Der Bretone Régis Loisel wurde 1951 in Saint-Maixent, Frankreich, geboren. 1972 erschien seine erste Veröffentlichung „Les Pieds Nickelés Magazine“. Im folgenden Jahr besuchte er an der Universität Vincennes Comiczeichenkurse, die insbesondere durch Jean-Claude Mézières („Valerian und Veronique") animiert wurden.

Größere Bekanntheit erreichte er mit Mitte der 80er Jahre mit dem Zyklus „Die Suche nach dem Vogel der Zeit“ nach einem Szenario von Segre Le Tendre, der in der Folgezeit für einige frankobelgische Fantasyreihen stilbildend wurde. Er illustrierte aber auch die sexuellen Fantasien des Autors Le Guirec im Comic „Freudenfeste“.

1991 erschien der erste Band seiner Adaption von „Peter Pan“, für das er unter anderem 1992 den „Max-und-Moritz-Preis“ der Stadt Erlangen erhielt. Erst im Jahr 2005 erschien der sechste und letzte Band der Reihe.

 

Immer wieder gibt es in diesem Comic wunderbar gearbeitete Panoramabilder, sei es vom winterlichen London, dem Armenviertel oder der Insel mit dem davor ankernden Piratenboot. Loisel scheint den Leser fast wie im Flug zu den Schauplätzen mitzuziehen und erschafft mit feinen Federzeichnungen und Schraffuren dichte Charaktere und trotz der dunklen Grundstimmung in London locker beeindruckende Bilder.

 

Interessant ist auch der Farbtonwechsel, wenn die Handlung von London zur Insel wechselt. Während die Szenen in London in gedeckten, fast schon düsteren Erdtönen gehalten sind, wechseln sie auf der Insel in helle, leuchtende und kräftige Farben, die einem nach der Londoner Tristesse fast schon lebensbejahend vorkommen.

 

Qualität, Ausstattung & Übersetzung

Bedauerlicherweise scheint die Neuauflage meiner Kenntnis nach nur als Softcover bei ehapa zu erscheinen. Hier hätte ich mir für ein doch recht eindrucksvolles (und mittlerweile auch bedeutendes) Werk doch eine Hardcoverausgabe gewünscht. Ebenso lässt die Ausstattung der Neuauflage etwas zu wünschen übrig – es gibt kein Vorwort, keine einleitenden Worte oder sonstige interessanten Zugaben in diesem Heft. Hier hat man unter Umständen seitens des Verlages eine große Chance vertan, um Sammlern oder Liebhabern dieses Comics diese Neuauflage an Herz zu legen.

Dennoch ist der Rest absolut in Ordnung: Es handelt sich nicht um eine Neuübersetzung und auch die Farbmischung stimmt.

 

Fazit:

Die Interpretation des „Peter Pan“ von Régis Loisels ist eigenwillig und wirkt vielleicht auch verstörend, doch scheint gerade diese Vorgeschichte in London eine überaus faszinierende Erklärung dafür herzugeben, woher die spätere Figur eines „Peter Pan“ überhaupt kam und was diese letztlich dazu antreibt, niemals erwachsen werden zu wollen.

Ein Werk zwischen äußerst trister Realität und grenzenloser Fantasie, das dennoch detailverliebt mit seinen Farben, Charakteren und Perspektiven deutlich beweist, dass Loisel zurecht als einer der wichtigsten und beliebtesten zeitgenössischen Autoren und Zeichner gilt.

 

Für mich persönlich ist dieser erste Band der Reihe in seiner Neuauflage eine absolute Kaufempfehlung, da es nur selten einen Comic gibt, der so viel Platz für Interpretationsmöglichkeiten lässt (selbst wenn man die Bücher von Barrie nicht kennt) und den Leser dabei von der ersten bis zur letzten Seite fesselt. Also – nicht lange zögern!