Links zur Rezension Sherlock Holmes dürfte sicherlich der berühmteste Detektiv der Welt sein, obwohl es sich bei ihm eigentlich nur um eine literarische Figur handelt, die vom Arzt und Schriftsteller Arthur Conan Doyle ins Leben gerufen wurde. Zwischen 1887 und 1927 verfasste Arthur Conan Doyle insgesamt 56 Kurzgeschichten und vier Romane mit seinen Protagonisten Sherlock Holmes und seinem Freund Dr. Watson, die auch nach dem Tod des Autors weiterleben sollten, da Theater, Kino und Radio den Detektiv zum Helden von Bühnenstücken, Filmen und Hörspielen machten. Und so dürfte es sicherlich nicht wundern, auch wenn es sich um zwei Franzosen handelt, wenn Sherlock Holmes auf ganz eigene Art und Weise in neue Abenteuer gestürzt wird.
InhaltLondon – ein beschaulicher und ruhiger Abend an den Limehouse Docks. Inspektor Lestrade hat von einem Informanten Hinweise auf die Identität des „Schänders“ versprochen bekommen, der seit geraumer Zeit mit seinen Schmierereien “God shave the Queen” die Stadt verunstaltet und nicht zuletzt damit auch ihre Majestät verunglimpft. Um seinen Erfolg noch größer werden zu lassen, hat er Dr. Watson und Sherlock Holmes gebeten, ihn bei diesem denkwürdigen Treffen zu begleiten. Leider stellt sich das Treffen mit dem Informanten als Falle heraus und so geraten die drei in ein Lagerhaus der Zilch Brauerei (Zilch Beer), wo sie nur knapp dem ertrinken durch Unmengen von Bier entkommen können.
Zurück bei Scotland Yard hat Sherlock Holmes rasch die Täterschaft für dieses Attentat geklärt: Nur der Verfasser der Nachricht an Lestrade über das Treffen mit dem Informanten kommt als Täter in Frage. Mit den Hinweisen vom Pier und in den Umkleideräumen kommt Holmes schnell dem Kollegen Pinkerton auf die Spur (der auch allen Grund hat, Lestrade zu töten!). Der Drahtzieher wird verhaftet, doch zündet Holmes in seinem Überschwang versehentlich das neue Gebäude von Scotland Yard an, welches bis auf die Grundmauern niederbrennt. In diesem Tumult entkommt leider auch Pinkerton.
Nur einen Tag später gibt es, außer schlechten Kritiken in der Zeitung über den Brand, einen neuen Fall für Dr. Watson und Sherlock Holmes. Wieder einmal ist es Lestrade, der bei den beiden ungleichen Gefährten auftaucht und seinen schottischen Verwandten Brodie mit sich schleppt, damit dieser Einblick in seine Arbeit bekommt. Als Lestrade schildert, ein Mann sei in seinem Bett gestorben, allerdings seien alle Türen und Fenster verschlossen gewesen, ist die Neugierde von Sherlock Holmes nicht unbedingt geweckt. Allerdings handelt es sich bei dem Toten um Dr. Spota, ein angesehenes Mitglied des Londoner „Club der tödlichen Sportarten“. Der Vorstand des Clubs möchte geklärt wissen, ob es sich um einen natürlichen Tod gehandelt hat oder ob Dr. Spota durch andere Umstände ums Leben kam, da es für den Club eine Beleidigung wäre, sollte er eines natürlichen Todes gestorben sein.
Der „Club der tödlichen Sportarten“ ist eine Ansammlung von skurrilen und betuchten Londoner Gentlemen, die in irgendeiner Form einer exotischen Sportart nachgehen und es vorziehen, lieber bei der Ausübung ihres Hobbys ihr Leben zu lassen. So frönte beispielsweise Dr. Spota, in seiner Freizeit, seiner Leidenschaft im Umgang mit Dynamit (die er bislang auch unbeschadet überstand). Um einen Blick hinter die Kulissen des Clubs zu bekommen und um mehr über dessen Mitglieder zu erfahren, wird Dr. Watson kurzerhand als neues Mitglied angemeldet und der Weg für neues Chaos freigemacht.
Die Untersuchung der Wohnung des toten Dr. Spota durch Holmes – insbesondere des Schlafzimmers, in dem er gestorben ist – fördert keine nennenswerten Hinweise zu Tage und es scheint, als würde es diesmal keine schnelle Lösung für diesen Fall geben. Auch die Recherche im Club, bei der sich Lestrade auf dem Wilhelm-Tell-Schießstand beweisen kann, bringt keine brauchbaren Informationen, die Holmes für seinen analytischen Verstand benötigt.
Für Kurzweil ist allerdings gesorgt, da Professor Litmus seine zahlreichen Erfindungen für die Mitglieder des Clubs vorstellt und Lestrade sogar einen versehentlichen Sprung aus einem Heißluftballon hinnehmen muss, der allerdings durch ein Seil gestoppt wird. Unnötig an dieser Stelle zu erwähnen, welch hohes Urteil man ab diesem Zeitpunkt über den Inspektor hat.
Als Holmes am nächsten Tag Dr. Watson beichten möchte, diesen Fall unter Umständen nicht lösen zu können und er in einer tiefen Schaffenskrise steckt, erscheint glücklicherweise ein neuer Klient, der für frischen Wind in dem festgefahrenen Fall sorgt.
Schreibstil & Artwork:Der Autor Pierre Veys wurde 1959 im nordfranzösischen Cambrai geboren. Sein eigenes Schaffen sieht er beeinflusst von Schriftstellern wie Jack Vance, Michael G. Coney und Yves Dermèze. Bereits während seines Biologiestudiums wandte er sich vermehrt dem Schreiben von Gags, Kurzgeschichten und Szenarios zu. Dabei schrieb er zwei Jahre lang für die Truppe eines Theaterrestaurants, verfasste Sketche für den französischen Comedian Jean-Marie Bigard, arbeitete für das Fernsehen (France 3) und realisierte Gags für die Magazine „Fluide Glacial" und „Spirou". Veys traf 1997 auf den Zeichner Nicolas Barral, mit dem er auf humorvolle Art und Weise die Bearbeitung des Mythos Sherlock Holmes in Angriff nahm. Der erste Band der Reihe „Baker Street“ beinhaltet noch ausschließlich Kurzgeschichten, während der Meisterdetektiv in den Folgebänden umfangreichere Fälle zu lösen bekam.
Mit dem Zeichner Guilhem entstand ab 2001 die Serie „Space Mounties“. Für die Comic-Reihe „Boule et Bill“, die in Deutschland auch als „Schnieff und Schnuff“ bekannt ist und die 1959 in Zusammenarbeit von Maurice Rosy und dem belgischen Comiczeichners Jean Roba (1930 - 2006) entstand und seit 2003 von Robas ehemaligem Assistenten Laurent Verron weitergeführt wird, steuerte Veys einige Szenarios bei. Seine Harry-Potter-Parodie „Harry Cover“ mit den Zeichnungen von Baka erschien 2005 und noch im gleichen Jahr folgte die Blake & Mortimer Parodie „Die Abenteuer von Philip und Francis“, die ebenfalls zusammen mit Nicolas Barral entstanden war.
Für die 1963 für das Magazin „Pilote“ erfundene Comicfigur „Achille Tallon“ (auch bekannt unter dem deutschen Namen „Albert Enzian“) von Michel Regnier (alias Greg) verfasste Veys ab 2006 neue Szenarien, die er mit dem Zeichner Moski umsetzte. Im Jahr 2008 schrieb er das Szenario für den Comic „Ch'tis“ (mit Zeichnungen von Frédéric Coicault), der später erfolgreich als „Willkommen bei den Sch’tis“ verfilmt werden sollte. Im Jahr darauf folgten die Geschichten um den Abenteurer „Adamson“, gezeichnet im realistischen Stil von Carlos Puerta.
Bereits im ersten Band der Reihe konnte Veys in den Kurzgeschichten mit einem sicheren Gespür für das Timing seiner Geschichte und seiner Pointen aufwarten, was allerdings nicht zuletzt auch dem rasanten Tempo dieser kurzen Episoden geschuldet war. Insoweit durfte man gespannt sein, ob es Veys gelingt diesen Stil auch in einer kompletten, albumfüllenden Geschichte umzusetzen.
Und ja – es gelingt ihm wunderbar! Die bisherigen Charaktere, egal ob es sich um Holmes, Dr. Watson, Inspektor Lestrade oder die ewig leicht betrunkene Mrs. Hudson handelt, sie alle werden mit ihren Macken, Marotten und Spinnereien in herrlichen Dialogen in Szene gesetzt und in das komplexe Gebilde eines neuen Falles eingebunden. Dabei orientieren sich die Figuren recht stark an ihrem literarischen Vorbild, verstehen es aber immer wieder in diese gewisse Würde des viktorianischen Englands einen Funken Anarchie einzubringen und somit ein Stück weit ihre „Vorbilder“ auf humorvolle Art neu zu interpretieren. Allerdings geht es Veys nicht immer um die schneidend scharfe logische Deduktion, wie sie einem Sherlock Holmes zu eigen ist, sondern um die überspitzt dargestellte Form eines Detektiv-Duos, in dem Dr. Watson als Chronist auftaucht, der aber vieles daran setzen muss sowohl seine eigene, als auch die Unzulänglichkeit eines Sherlock Holmes in passende Worte für den Leser zu fassen.
Dem großen Fall, den Pierre Veys uns hier präsentiert, mögen einige „Unebenheiten“ anhaften, insbesondere wenn man manchmal den Eindruck hat, es würde sich nur um eine Aneinanderreihung von einzelnen „Fällen“ handeln. Doch diese scheinbar losen Geschichten sind durch einen sehr geschickt angelegten roten Faden miteinander verbunden, dessen Verbindungen den Leser am Schluss in Staunen versetzt.
Nicolas Barral wurde 1966 in Paris geboren. Er studierte ein Jahr plastische Kunst in Angoulême unter der Führung von Robert Gigi. Bei einem Nachwuchswettbewerb der französischen Handelskette „fnac“ wurde sein Comiczeichentalent von Jean-Christophe Delpierre entdeckt, der ihn bei dem Magazin „Fluide Glacial" unterbrachte, wo ab 1993 die Geschichten um den chronisch suizidgefährdeten „Ernest Mafflu“ erschienen. Seine zeichnerischen Vorbilder sieht Barral unter anderem in Jean Giraud und Jacques Tardi (durch den er die 50er Jahre lieben lernte), aber auch in Christian Rossi und François Boucq.
Zusammen mit Christophe Gibelin kreierte Barral 1995 die Figur des Monsieur Plomb, der in der Fliegerserie „Les ailes de plomb“ die Hauptrolle spielt. Nebenher zeichnete Nicolas Barral aber auch gerne Cartoons, die seinen trockenen (fast britischen) Humor zeigten. Dieses kam der zusammen mit dem Szenaristen Pierre Veys kreierten Serie „Baker Street“ zugute, die 1997 in der Nummer 3107 des „Spirou"-Magazins mit der Kurzgeschichte „Zwischenfall auf der Themse“ debütierte. Im Oktober 1998 folgte schließlich das erste Album dieser Reihe um den berühmten Meisterdetektiv, das 1999 von der Société Sherlock Holmes de France mit dem „Groom“ ausgezeichnet wurde.
2005 erschien die Blake & Mortimer Parodie „Die Abenteuer von Philip und Francis“, wiederum nach einem Szenario von Pierre Veys. 2007 erschien der erste Band von „Dieu n'a pas réponse à tout“ (Szenario: Tonino Benacquista), aus dem auch eine Kurzgeschichte unter dem Titel „Der liebe Gott“ im ZACK Magazin erschien. Dort wurden auch einige Storys von „Napoleon Tran“ abgedruckt, wobei Barral hierbei als Szenarist in Erscheinung trat und die Zeichnungen von Olivier TaDuc stammen.
Das bekannte Erscheinungsbild von Sherlock Holmes – groß, hager und mit spitzen Gesichtszügen – hat Barral hervorragend in Szene gesetzt, wobei ihm entweder der Schauspieler Basil Rathbone oder Jeremy Brett als Vorlage dienten. Aber auch die sonstige zeitgenössische Szenerie weiß er überzeugend darzustellen und so könnte man fast meinen, neben den zahlreichen besseren Holmes-Verfilmungen seien einige Motive den Zeichnungen von Sidney Paget, die den Erstdruck der Geschichten im renommierten britischen Literaturmagazin „The Strand“ begleiteten, entnommen. Auch ein Dr. Watson, mit seiner etwas kräftig beleibten schottischen Art, wandert auf den Spuren etlicher Verfilmungen und bietet das nahezu perfekte Klischee eines Dr. Watson.
Die Reihe ist dem Bereich Funny zuzuordnen, wobei man sicherlich hier sogar den Bereich des Semi-Funny anhalten kann, da die Darstellung der Figuren vor einem durchaus realistischen Hintergrund erfolgt. Die zum Teil überzeichneten und manchmal schon fast karikaturhaften Gesichtszüge mancher Figuren (als auch so manch dicke Knollennase) sind Programm. Dabei sind die unterschiedlichen Figuren durchdacht und mit wunderbar leichtem Strich gezeichnet, so wie man Barral insgesamt eigentlich nur ein gutes Gespür für Mimik, Bewegung und die Wahl seiner Perspektiven zusprechen kann.
Qualität, Ausstattung & ÜbersetzungIn Sachen Qualität braucht der Piredda Verlag sich nicht zu verstecken: Für sein Geld bekommt man einen sauber verarbeiteten und haltbaren Hardcover-Band, der von seinem Format ein wenig kleiner als die sonst üblichen großformatigen Alben ausfällt. Die Übersetzung, die wiederum von Martin Surmann stammt, befleißigt sich weiterhin eines charmanten britischen Untertons, der sich überaus angenehm lesen lässt und für sich alleine zum Schmunzeln reicht. Einziger Kritikpunkt dürfte erneut der sehr filigran geratene Schreibschrift-Font der Aufzeichnungen des Dr. Watson sein, die beim Entziffern hier und da doch einige Mühe macht.
FazitDie Darstellung von Sherlock Holmes als Comicfigur ist nichts ungewöhnliches – das gab es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder einmal in höchst unterschiedlichen Ausprägungen. Die Entdeckung dieser literarischen Figur durch das Duo Veys und Barral verleiht allerdings dem Mythos Sherlock Holmes neue und sehr humorvolle Züge, ohne dabei sein literarisches Vorbild vollkommen zu demontieren. Der Sprung aus dem ersten Band, der mit einigen sehr unterhaltsamen Kurzgeschichten aufwarten konnte, in eine albumfüllende Geschichte ist dem Duo auf jeden Fall gelungen: Die Figuren haben sich ihren sonderbaren Sinn für Humor bewahrt, die Zeichnungen sind durchweg sehr gelungen und auch der neue Fall des Sherlock Holmes ist spannend in Szene gesetzt – so wie man es auch in ähnlicher Form von einem Sir Arthur Conan Doyle gewohnt ist.
Doch ist es weniger der literarische Anspruch, als vielmehr die gelungene Mischung aus Humor und trockener Wortspielerei, die Figuren aus den Sherlock-Holmes-Romanen in einem leicht geänderten Licht erscheinenzu lassen und sie hierdurch den Leser einfach nur hervorragend amüsieren.
Bereits beim ersten Band habe ich hartgesottene Fans von Sherlock Holmes davor gewarnt, sich diesen Band zu Gemüte zu führen, da sie unter Umständen mit dieser manchmal haarsträubenden aber sehr lustigen Interpretation ihre Probleme haben dürften. Wobei an dieser Stelle allerdings auch erwähnt werden sollte, dass der erste Band der Reihe in Frankreich den Preis der Sherlock-Holmes-Gesellschaft erhalten hat!
Insgesamt kann ich diesen Band nur empfehlen, der zwar nicht unbedingt als absoluter Meilenstein in die Comic-Geschichte eingehen wird, aber als sehr gelungene Unterhaltung mit Sicherheit seine treuen Fans finden wird und auf jeden Fall neugierig macht, mit welchen Fällen sich Sherlock Holmes in den folgenden Bänden beschäftigen muss.
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