Links zur Rezension Frühjahr 1851, London, wenige Tage vor der Weltausstellung
Miss Niobe und ihr Gönner Lord Bailey wohnen einer Abendgesellschaft bei, die von Lady Sedgwick und ihrem Mann ausgerichtet wurde. Sir Malcolm Sedgwick allerdings lebt seit einiger Zeit recht einsiedlerisch und so beschließen die beiden, ihn einmal in seinem Arbeitszimmer zu besuchen, wenn er sich denn schon nicht bei der Feier blicken lassen will. Was sie finden, ist allerdings nur der klägliche Rest Sir Malcolms - seine Leiche. In Anbetracht dessen, dass Sir Malcolm sich nun noch viel weniger mitteilen wird als zuvor, beschließt Bailey, seinen Geist auf höchst makabere Art zu befragen, was ihnen jedoch den Mörder Malcolms offenbart.
Frans Ovenhart, der gerade dabei ist, für den Mord an Sir Malcolm nach einem Alibi zu fischen, wird von seinen Auftraggebern gerufen und fällt in Ohnmacht. Nach diesem kleinen gedanklichen Ausflug muss der Ingenieur sich mit der Damenwelt auseinander setzen und gerade, als es zumindest in dieser Hinsicht für ihn Erfolg versprechend aussieht, platzen Miss Niobe und Lord Bailey ins Hotelzimmer, um ihn zu stellen. Als er nackt, aber glücklicherweise unsichtbar, aus dem Bad stürmt, folgt ihm Miss Niobe und jagt ihn bis zur Pforte des Kristallpalastes, der nicht nur Besucher aus aller Welt anzulocken scheint, sondern vor allem die Träger der Talente, wie Miss Niobe und Frans es sind.
Genauso wie Captain Sokrates Royal, der gerade nach London zurück gekehrt ist, einen großen Bogen um seine Frau macht und daher mehr als glücklich ist, als er eine neue Aufgabe zugeteilt bekommt: Er soll den Kristallpalast bewachen, und wie Miss Niobe und Frans zuvor, fühlt er sich von ihm sofort angezogen. Wie er selbst sagt, vielleicht ein wenig zu sehr.
Doch was für ein Interesse haben die Loge, die Heeren und der Guards Club - die Organisationen, denen Niobe, Frans und der Captain angehören - an dem Kristallpalast? Ist er bloß ein Behältnis für die unterschiedlichsten und fantastischsten Objekte, die die Londoner und ihre Gäste je gesehen haben? Oder ist er mehr als ein reines Bauwerk?
Steampunk - das ist zumindest mein Blick auf die Dinge - ist der Versuch, die postmodernen Elemente, die mit dem Cyberpunk Einzug in die Science-Fiction hielten, in einen pseudo-historischen Kontext rückzuführen.
Dieser pseudo-historische Kontext ist in unserem Fall die erste Weltausstellung in London im neunzehnten Jahrhundert. Plaschka selbst beschreibt im Nachwort, dass sich die drei Autoren so nah wie möglich am historischen Vorbild orientiert haben, jedoch einige schriftstellerische Freiheiten wählten, was dem unkundigen Leser aber wohl kaum auffallen dürfte. Stattdessen präsentiert sich ihm ein London in all seinen Facetten, das in diesem Jahr zum Tummelplatz vieler unterschiedlicher Nationen geworden ist und neben einer düsteren Atmosphäre, mit Regen und plötzlichen Hagelstürmen eben auch exotische Besucher und einen Palast, aus Eisen und Glas, zu bieten hat.
Der aber steht zunächst gar nicht im Mittelpunkt der Betrachtung, vielmehr ist er zwar ein zentrales Gebäude, doch viel wichtiger sind die Personen, die um ihn herum agieren, sich von ihm angezogen fühlen und ihn schützen sollen. Die drei Hauptakteure - die Inderin Niobe, der Niederländer Frans und der englische Captain Sokrates - repräsentieren dabei die Vielzahl an unterschiedlichen Organisationen, die sich aus irgendeinem Grund für den Palast interessieren und zwar weit mehr, als es normal wäre. In rollenspieltechnischer Manier stehen die drei Akteure für die drei Autoren, was den Charakteren nur Vorschub leistet, die ebenso wie ihre Umgebung und die Handlung mit feinen Details ausgestattet und so zum Leben erweckt werden. Zwar liegt der Fokus, meinem Gefühl nach, auf Niobe und Frans, die sich denn auch ab und an in schlagfertige Dispute verstricken, trotzdem sind alle drei Charaktere so gut ausgestaltet, dass sich der Spielleiter - in diesem Falle der Leser - mächtig darüber freuen dürfte. Ebenso aussergewöhnlich wie die Hauptcharaktere sind die Nebenfiguren wie Lord Bailey, der Admiral, die Heeren oder auch Major Samuel Blakewell, der in Form von Tagebucheinträgen seine Geschichte zum Besten geben darf. Gerade diese Tagebucheinträge, obwohl sie wesentlich weniger Platz einnehmen, waren für mich jedoch die Höhepunkte dieser Erzählung, da sie durchaus einem alten Abenteuerroman entsprungen sein könnten und letztlich die fehlenden Puzzleteile der Hauptgeschichte bilden.
Diese ist nämlich in ihrer Gewaltigkeit nicht sofort durchschaubar und zum Teil für meinen Geschmack etwas zu unübersichtlich. Das mag besonders daran liegen, dass eben drei Hauptcharaktere in einigermaßen gleichen Teilen zu Wort kommen, die auch noch drei verschiedenen und nebulösen Organisationen angehören, was zu Beginn des Romans doch verwirrend sein kann. Der Leser ist damit angehalten, der Geschichte aufmerksam zu folgen - obwohl er sich aufgrund der zwar atmosphärischen, aber doch reichen Beschreibungen Londons und seiner Attraktionen manchmal fragen wird, was das alles jetzt eigentlich mit der Handlung zu tun hat. Hinzu kommt, dass der Palast, wie bereits angedeutet, in den ersten zwei Dritteln des Buches eine Nebenrolle spielt, die zwar wie ein Schatten über den Personen und Geschehnissen liegt, aber doch eben oft aus dem Blickwinkel gerät. So glaubt man sich zunächst in einer Kriminalgeschichte wieder zu finden, um dann doch festzustellen, dass man es mit einem waschechten phantastisch-historischen Roman zu tun hat, dessen Akteure die Welt verändern könnten - vielleicht nicht unbedingt zum Guten.
Oft bedeutet dies eine Anreicherung dieses Kontexts mit anachronistischen und fantastischen Dreingaben.
Mit Fantasy-Elementen halten die drei Autoren jedoch wunderbarerweise an sich und schaffen so einen erstklassigen Roman des Steampunk, dessen einzige realitätsverändernde Merkmale wohl die Talente sind, abgesehen von einigen ungeheuerlichen Erfindungen, über die ich mich hier aber lieber ausschweige, um die Entdeckerlust des Lesers nicht zu schmälern. Was den Roman aber so interessant macht, sind - auch wenn sie sich von ihren Intentionen her nicht sofort erschließen - die unterschiedlichen Ziele und Interessen der Loge, der Heeren und des Guards Club. So wimmelt es vor Verschwörungen und Intrigen, durch die der Leser kaum hindurchfindet, weil auch die Charaktere, in deren Rollen er schlüpft, nur einen begrenzten Wissensumfang haben.
Die Heeren allerdings machen noch einen anderen Umstand aus - sie sind ein Teil der beinahe lovecraftschen Züge dieses Romans, zu denen sich auch der Palast und seine eigentliche Funktion zählen dürfte. Für Verehrer des Cthulhu-Mythos gibt es also durchaus auch Anreize diesen Roman einmal in die Hand zu nehmen und vielleicht nicht nur durchzublättern.
Im Gegensatz zu anderen Roman des Genres bleiben die Autoren aber sehr nah an der Wahrheit, was ihrer Geschichte auch sehr gut tut und was wohl auch in der Natur der „origin“-Reihe des Verlages begründet liegt.
Es ist ein gutes Gefühl, es geschafft zu haben.
Ich muss gestehen, nach den ersten Seiten des Buches fiel es mir doch schwer, mir vorzustellen, dass der Roman mir gefallen könnte. Das ging mir auch innerhalb des Romans weiterhin so, wenn ich an Stellen kam, die sich mir nicht sofort erschlossen haben, weil eben schon wieder eine neue Organisation hinzu kam, die Geschichte einen völlig unerwarteten Verlauf nahm oder ich mir die Frage stellen musste, inwiefern die Schilderung einer Kneipennacht von Captain Royal denn jetzt so interessant für die Geschichte sein solle. Doch die einzelnen Szenen fügen sich nach und nach zu einem Bild zusammen, zum Bild des Captains, der Stadt oder der Geschichte selbst - und kurz vor dem Ende hat man dann auch das Gefühl, etwas verstanden zu haben, obwohl einem die wahren Beweggründe vermutlich zum Teil absichtlich verborgen bleiben werden.
Und so bin ich froh, dass ich weitergelesen habe, denn mit all den unterschiedlichen Aspekten fügt sich nicht nur ein Bild der Geschichte zusammen, sondern bekommt auch der Steampunk für mich neue interessante Elemente hinzu, die dieses vielgestaltige Genre für die verschiedensten Lesergruppen öffnet.
Plaschka, Flory und Mösch haben damit einen Roman geschaffen, der zwar dramaturgisch verworren ist, aber Figuren mit markanten Charakteren, eine durchaus spannende Handlung, aber vor allem viele dunkle Einflüsse anderer Autoren bietet, die sie zu einem beinah perfekten Ganzen vermengen.
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