Links zur Rezension InhaltGormenghast – oder genauer: Der größte Teil des alten Mauerwerks – hätte, für sich gesehen, eine bestimmte, eindrucksvolle Bauweise repräsentiert, wäre es nur möglich gewesen, jene umliegenden schäbigen Behausungen zu ignorieren, die sich wie eine krankhafte Wucherung um die Außenmauern legten. Sie breiteten sich über den Hang aus, eine jede halb über dem Nachbargebäude aufragend, bis die oberen Hütten, aufgehalten durch die Befestigungen der Burg, wie Napfschnecken am Felsen klebten. Aufgrund eines alten Gesetzes war diesen armseligen Behausungen die fröstelnde Nähe der über ihnen drohenden Festung gewährt. Zu allen Jahreszeiten fielen über die unregelmäßigen Dächer die Schatten der von der Zeit angenagten Zinnen, der zerfallenen und der hochaufragenden Türmchen und, am gewaltigsten, der Schatten des Pulverturms. Dieser Turm, ungleichmäßig mit Efeu bewachsen, erhob sich wie ein verstümmelter Finger aus einer Faust von knöchelartigem Mauerwerk und wies blasphemisch gen Himmel. Des Nachts verwandelten ihn die Eulen in einen hallenden Schlund; tagsüber ragte er stumm auf und warf seinen langen Schatten.
Diese fulminanten ersten Sätze bringen den Leser in das abgelegene und riesige Schloss Gormenghast, in welchem Lady Gertrude Groan den jüngsten Spross der Herrscherfamilie Groan und Erben des Schlosses zur Welt bringt: Titus Groan. Doch ist es nicht nur diese denkwürdige Geburt, sondern auch das Schicksal des Küchenjungen Steerpike, der am gleichen Tag der Geburt vor den üblen Nachstellungen des sadistischen Küchenmeisters Swelter aus den dunklen und abgeschiedenen Gewölben der Küche ausbricht. Seine Flucht endet allerdings jäh in den weitläufigen Fluren und Räumen des Schlosses, als er von Flay, dem loyalen Diener der Groans, aufgegriffen wird. Aus Freude über die Geburt gewährt Flay dem 17-jährigen Jungen einen Blick auf den neugeborenen 77. Lord von Groan und damit nimmt das eigentliche Schicksal seinen Lauf. Nicht nur das Steerpike eine Entscheidung über sein weiteres Leben trifft, so ist es eine unbedachte Äußerung über das vermeintlich hässliche Erscheinungsbild des Neugeborenen Titus, die den darüber verärgerten Flay dazu bringt, ihn in einer Kammer einzusperren. Doch gelingt Steerpike die Flucht aus seinem „Gefängnis“ und er gelangt dabei auf das Dach des Schlosses, wo er eine ganz eigene und sehr persönliche Erfahrung macht.
Sein Weg zurück in das Schloss ist allerdings nicht einfach und so meint es der Zufall gut mit ihm, als er bei seiner Suche nach einem geeigneten Weg auf die abgelegenen Räume von Fuchsia im weitläufigen Dachgeschoss stößt und Bekanntschaft mit der temperamentvollen, aber auch romantisch-verträumten 15-jährigen Tochter der Groans macht. Es gelingt Steerpike Fuchsia für sich einzunehmen und er wird, mehr oder weniger dank ihrer Hilfe, zum Gehilfen des Schlossarztes, Doktor Prunesquallor. Der skrupellose Ehrgeiz von Steerpike, der seine Chance erkennt, an Macht und Einfluss im Schloss zu kommen, hat keine Grenzen und so bedient er sich der Schwächen und Leidenschaften der machtbesessene, aber nicht gerade mit Intelligenz gesegneten Zwillingsschwestern von Lord Groan, Lady Cora und Lady Clarice, zu deren persönlichen Berater er sich aufschwingt.
Während Steerpike sich anschickt, das Leben auf dem Schloss mit seinen Gepflogenheiten kennen zu lernen, und seine Position ausbaut, wächst der junge Titus heran. Aber der Leser lernt auch Lady Gertrude besser kennen, die ihre Tiere mehr liebt als alles andere und umgeben von unzähligen weißen Katzen in ihrem Bereich des Schlosses wohnt, als auch Lord Sepulchrave, den 76. Earl von Groan, dessen ganze Liebe seinen Büchern und seiner Bibliothek gehört. Doch gibt es auch noch zahlreiche andere skurrile und extravagante Charaktere, denen der Leser in diesem von uralten Ritualen und seltsamen Gepflogenheiten beherrschten Schloss begegnet.
Der intrigante Steerpike nutzt seinen wachsenden Einfluss auf die Geschicke im Schloss aus und schmiedet ein Komplott, bei dem die riesige Bibliothek des Schlosses in Flammen aufgeht und er sich als Retter der Familie in Szene setzen kann, während Lord Groan über den Verlust seiner geliebten Bücher, die zugleich seine einzige Zuflucht waren, langsam den Verstand verliert. Doch ist Steerpike noch lange nicht an seinem Ziel angelangt und weitere Intrigen werden gesponnen. Während sich Steerpike der Regeln und Riten von Gormenghast für die eigene Machtgier bedient, lehnt der heranwachsende, noch junge Titus das erstarrte und sinnentleerte Leben im Schloss anlässlich einer Zeremonie scheinbar ab und wird damit zu seinem Widersacher. Er ist der einzige, der verbleibt, um sich irgendwann vielleicht Steerpike in den Weg zu stellen und dessen Treiben ein Ende zu bereiten.
Über den Autor:Unmittelbar nach seinem Studium an der Universität von Edinburgh meldete sich Dr. Ernest Cromwell Peak 1898 als Arzt für Allgemeinmedizin bei der „London Missionary Society“, die ihn als Arzt nach Hengyang in Zentralchina schickte, wo er gemeinsam mit anderen Ärzten ein Einzugsgebiet betreute, welches fast die Größe Englands hatte. In Kuling lernte Dr. Ernest Cromwell Peak seine spätere Ehefrau Amanda Elizabeth Ann Peake kennen, die ebenfalls im Missionsdienst stand. Man heiratete und das Ehepaar hatte bereits einen Sohn, Ernest Leslie, als Mervyn Laurence Peake am 09.07.1911 in Kuling zur Welt kommt. Kurz nach der Geburt von Mervyn wird Dr. Peake allerdings die Leitung eines Krankenhauses im 800 Meilen nördlich gelegene Tientsin übertragen und so zieht die Familie nach Tientsin, wo Mervyn später auch die „Tientsin Grammar School“ besucht.
Es war eine Zeit großer Umbrüche für China, da zu Beginn des 20. Jahrhunderts die herrschende Qing-Dynastie unter ihrem Kaiser Pu Yi in Trümmern lag und sich das Land in zwei große Lager spaltete, zum einen die Gemäßigten, die eine Reform des Kaisertums hin zu einer konstitutionellen Monarchie im Sinn hatten, zum anderen die Revolutionäre, die das Kaisertum endgültig beseitigen und China zu einer Republik machen wollten. Dieser Konflikt sollte noch einige Jahre schwelen und schließlich im chinesischen Bürgerkrieg enden. Es ist in der Gormenghast-Reihe recht offensichtlich, wie Peake die Eindrücke dieses in Ritualen und Traditionen verhafteten Landes, das seine ersten elf Lebensjahre nachhaltig beeinflusst hat, in seine Geschichten einfließen ließ.
Bereits in diesen jungen Jahren bewies Mervyn großes Talent als Zeichner. Zu seinen liebsten Büchern in seinen Jugendjahren zählte er Robert Louis Stevensons Buch „Die Schatzinsel“, die er in Teilen sogar auswendig konnte. Und so dürfte seine Liebe zu Piraten sicherlich noch aus dieser Zeit herrühren. Ende 1922 kehrte die Familie nach England zurück, wo sein Vater damit begann, eine eigene Arztpraxis zu etablieren. Mervyn besuchte das Eltham College in London, welches später ebenfalls in abgewandelter Form Einzug in den Kosmos von „Gormenghast“ hielt. Als Schüler zeigt sich Mervyn überaus achtlos in seiner Rechtschreibung und seinen Examensvorbereitungen, auch wenn er ansonsten als recht guter Sportler durchging. Lediglich der Einsatz seines Kunstlehrers bewahrt ihn allerdings vor einem Schulverweis. Mit dem Lehrer Eric Drake, der das Schulmagazin herausgibt und mit seinem Bruder Theaterstücke inszenierte, verbindet ihn eine gewisse Freundschaft.
1929 erhält er die Zulassung für die „Royal Academy of Arts“, die er allerdings nach vier Jahren wieder verlässt, um dem Ruf seines alten Lehrers Eric Drake zu folgen, der zwischenzeitlich eine Künstlerkolonie auf der Kanalinsel Sark gegründet hat. Hier arbeitet Peake weiter an seiner Malerei, gibt Ausstellungen und schafft es sogar, die Aufmerksamkeit von Robert Kirkland Jamiesons auf sich zu lenken, der zu dieser Zeit Leiter der Westminster School of Art war. Im Jahre 1935 endet der Lebensabschnitt auf Sark für Peake allerdings erst einmal. Er kehrt nach London zurück und nimmt das Angebot von Jamieson an, als Lehrer an der Westminster School of Art zu arbeiten. Hier lernt er die schüchterne Schülerin Maeve kennen, die er mit seiner liebenswürdigen, aber extravaganten Art zu beeindrucken weiß und die er am 01.12. 1937 heiratet. Ende der dreißiger Jahre hat Peake als Künstler eine beachtliche Reputation erreicht: Queen Elizabeth kauft eins seiner Bilder, Walter de la Mare schätzt seine Gedichte und Dylan Thomas leiht sich sogar Anzüge von ihm. Kurz nach dem Tod seiner Mutter 1939 wird sein erstes Buch veröffentlicht „Captain Slaughterboard drops anchor“, ein Kinderbuch mit eigenen Texten und Illustrationen. 1940 wird sein Sohn Sebastian geboren.
Nach dem Kriegsausbruch meldet sich Mervyn bei der Royal Artillery. Allerdings stellt sich rasch heraus, dass der Künstler Peake recht ungeeignet für den Kriegsdienst ist. Rasch folgt der Wechsel zu den „Royal Engineers“, begleitet von häufigen Wechseln in der Stationierung. Zu dieser Zeit beginnt er „Titus Groan“ zu schreiben und erhält sogar von seinem befehlshabenden Offizier die offizielle Befreiung dieser Tätigkeit nachzukommen. Was zunächst als unsinnige Unterhaltung zwischen zwei aufgeblasenen Trotteln begann, wird als Skizze von Peake rasch verworfen und nach und nach beginnt sich die Idee von Gormenghast zu entwickeln, die er in den Jahren zwischen 1940 bis 1943 zu Papier brachte.
Als 1942 Peakes zweiter Sohn Fabian zur Welt kommt, entfernt er sich mittels gefälschter Papiere von der Armee, um bei Maeve sein zu können, allerdings erleidet er kurze Zeit später einen Nervenzusammenbruch und ein längerer, wenn auch produktiver, Aufenthalt in einem Sanatorium folgt. Im Jahr darauf wird er aus der Armee entlassen.
Mit der von ihm illustrierten Ausgabe des „Rime of the ancient mariner“ wird Peake in England als „der größte lebende Illustrator unserer Zeit“ gefeiert, wohingegen seine Prosa noch einiger Verbesserung bedarf. So wird seine Erfassung von „Titus Groan“, die er an den Verlag Eyre & Spottiswoode verkaufen möchte, in seiner Erstfassung als nicht veröffentlichbar abgelehnt. Allerdings ermutigt man ihn zu einer Überarbeitung seines vorgelegten Manuskriptes, da man durchaus das Potential erkannte.
Im Jahr 1945 erhält Peake die Position eines „War Artist“ und reist im Rang eines Captains mit dem Reporter Tom Pocock in das vom Krieg zerstörte Deutschland. Allerdings wird diese Reise bei weitem nicht das erhoffte Abenteuer. Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen kehrt Peake traumatisiert nach England zurück und sollte diese Eindrücke Jahre später in „Titus alone“ verarbeiten.
Nach der Veröffentlichung der Gedichtsammlung „Shapes and Sounds“ im Jahr 1941 und den Nonsensversen „Rhymes without Reason“ 1944 veröffentlicht 1946 der Verlag Eyre & Spottiswoode die von Peake überarbeitete Fassung von „Titus Groan“, der im gleichen Jahr die von ihm illustrierte Ausgabe von „Alice’s Adventures in Wonderland“ folgt. Der Roman „Titus Groan“ wird von der Presse und dem Publikum mit recht geteilter Meinung aufgenommen.
Die Familie zieht abermals auf die Kanalinsel Sark, wo sie ein großes Haus kauft, welches im Krieg den deutschen Besatzern als Hauptquartier gedient hatte. In dieser Zeit entsteht „Gormenghast“ und die Illustrationen zu den Romanen „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1948) sowie „Treasure Island“ (1949) von R.L. Stevenson. Die ständigen Reisekosten von Mervyn zehren allerdings an dem nicht unbedingt üppigen Einkommen, so dass die Familie nach der Geburt ihrer Tochter Clare 1949 wieder nach London zieht, wo Mervyn eine Stelle als Lehrer an der Central School of Art in Holborn annimmt.
Das Jahr 1950 steht für Peake ganz im Zeichen der Veröffentlichung von „Gormenghast“ und der Gedichtsammlung „The Glassblowers“, für die er noch im gleichen Jahr von der Royal Society of Literature mit dem W.H. Heinemann Award ausgezeichnet wird, was zweifelsohne mit einer der Höhepunkte seiner Karriere sein dürfte. Ab 1954 arbeitet er an dem dritten Band der Gormenghast-Reihe „Titus Alone“ und bereits 1956 adaptiert die BBC den Roman „Titus Groan“ als Hörspiel. Die finanzielle Situation von Peake hat sich in den letzten Jahren zusehends verschlechtert und so setzt er große Hoffnungen in das Theaterstück „The Wit to Woo“, welches 1957 seine Uraufführung erlebt. Allerdings sind die Kritiken recht mäßig und auch der gesundheitliche Zustand von Peake verschlechtert sich immer mehr.
In den nächsten Jahren folgt eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser, da Peake wahrscheinlich unter Parkinson leidet. Allerdings kann keine befriedigende Diagnose gestellt werden und zahlreiche unterschiedliche Behandlungen folgen. Ende der sechziger Jahre bekommt sein Werk – nicht zuletzt durch den unermüdlichen Einsatz seines Bewunderes Michael Moorcock – größere Bekanntheit, als Mervyn Peake am 17.11.1968 in Burcot, in der Nähe von Oxford verstirbt.
FazitGormenghast ist eine starre und scheinbar hermetisch versiegelte Welt, in welche die treibende und zerstörende Kraft des Protagonisten Steerpike am Tage der Geburt von Titus Groan einbricht. Niemand im Schloss scheint seine Intrigen zu durchschauen und mit mörderischer Kraft arbeitet sich Steerpike in seiner Karriere bis ganz nach oben. Würde er nicht handeln, bliebe das Leben auf Gormenghast weiterhin in seinen antiquierten und zum Teil nicht mehr nachvollziehbaren, seltsamen Ritualen und Zeremonien verhaftet, die sich schon seit Jahrhunderten auf die gleiche Weise zugetragen haben. Und so wird zunächst Steerpike zum eigentlichen Protagonisten in diesem Roman, der Gefallen an der scheinbar mühelosen Art findet, mit der er es ihm gelingt, seine Pläne umzusetzen und seine Machtgier zu stillen, bis schließlich auch der junge Titus die Bühne des Schlosses betritt und sich mit seinen ganz eigenen Ansichten Steerpike entgegenstellt.
Was Mervyn Peake mit seinem Roman geschaffen hat, lässt sich nur schwerlich einordnen. Es ist ein phantastischer Roman, der dennoch gänzlich ohne Magie oder klischeebehaftete Fantasy auskommt und in seiner Sprache den Leser schier zu überwältigen droht. Er lässt unzählige Interpretationsmöglichkeiten offen und so kann man sich als Leser einfach nur hervorragend unterhalten fühlen oder aber nach Zeichen und Symbolen suchen, die Peake in mannigfaltiger Form verarbeitet hat.
Es scheint, als habe der Maler Peake seine Worte weniger geschrieben, sondern als habe er vielmehr mit einem Pinsel Worte zu Papier gebracht, die im Geiste des Lesers die dunkle Kulisse des alten Schlosses auferstehen und ihn gebannt die dramatische Entwicklung verfolgen lassen. Dabei führt er dem Leser die uralten Traditionen und Rituale, deren Ursprung und Sinn längst in Vergessenheit geraten sind, aber auch das Leben seiner Bewohner bestimmen, mit einer erschreckend lebendigen und realistischen Art vor Augen. Die Schilderung der Geschehnisse auf dem Schloss, die in ihrer Art unglaublich skurril und immer wieder bizarr sind, dürften in ihrer Beschreibung wohl einzigartig sein, insbesondere wenn man sich den zeitlichen Kontext der Entstehung ins Gedächtnis ruft.
Man muss sich als Leser allerdings auf den ganz besonderen Stil von Peake einlassen und es ist bei weitem keine Schande, dieses Buch nicht zu verstehen oder es vielleicht erst in einem zweiten oder dritten Anlauf zu Ende zu lesen. Im Vordergrund stehen die zahlreichen unterschiedlichen Bewohner des Schlosses und man erhält einen tiefen Einblick in die manchmal naiven, aber auch düsteren Beweggründe, Obsessionen, Ängste und Hoffnungen der Handelnden. Was Peake hier erschaffen hat, sucht sicherlich seinesgleichen und ist nicht zuletzt sprachlich der fulminante Auftakt einer Neuveröffentlichung der neu durchgesehenen Reihe in der Übersetzung von Annette Charpentier, die zudem mit einem sehr kenntnisreichen Vorwort von Kai Meyer aufwarten kann. Für mich eine absolute und uneingeschränkte Empfehlung – aber Vorsicht: Dies ist mit Sicherheit keine leichte Kost!
|
||||||||||||||||||||