Links zur Rezension InhaltIn „Der letzte Lord Groan“ versucht Peake seine Protagonisten Titus und die bisherige Erzählweise aus der hermetischen Fantasy-Welt, die er in „Das Schloss“ und „Der junge Titus“ erschaffen hat, herauszuführen und sie nicht nur mit Fragen der Identität, der Zeit und des menschlichen Miteinanders zu konfrontieren, sondern auch mit den Problemen der Moderne und sogar der Postmoderne. So begibt sich Titus Groan, der 77. Lord Gormenghast, nach seinem Kampf mit seinem Widersacher Steerpike und der Überflutung des Schlosses in die Welt, die hinter den finsteren und verfallenen Schlossmauern auf ihn wartet. Und schon bald erscheint ihm die bisherige Welt, wie er sie von Kindesbeinen auf kannte, wie ein verlorener Traum.
Peake schickt seinen jungen Helden auf eine seltsam unergründliche Reise, die ihn aus seinem zerstörten antiquierten Schloss geradewegs in eine utopische Zukunftsvision führt. Nach einer Reise auf einem Fluss, stößt er auf eine seltsame Stadt, in der es Autos, Hochhäuser und noch viele andere Dinge zu entdecken gibt. Niemand scheint ihn zu kennen, außer vielleicht den seltsamen Männern die in verfolgen.
So wie in den beiden früheren Bände Steerpike als Figur dominierte, jener Verkörperung des Zorns gegen das Establishment, der sogar dann, wenn er am bösartigsten agiert, unser Verständnis, wenn nicht unser Mitgefühl gewinnt, wird „Der letzte Lord Groan“ von der Figur von Muzzlehatch beherrscht, dem geheimnisvollen, halb verrückten Mentor und Führer von Titus in der Welt jenseits von Gormenghast. Auch wenn die Spannweite an komischen und grotesken Figuren in diesem Band nicht ganz so groß ist, existieren aber durchaus einige reizvoll in Szene gesetzte Charaktere, insbesondere die Schar wundervoller Frauen denen Titus begegnet: Juno, die zu einer Art Beschützerin wird, die Schwarze Rose und Cheetah, die verruchte Tochter eines reichen Industriellen.
Über den Autor:Unmittelbar nach seinem Studium an der Universität von Edinburgh meldete sich Dr. Ernest Cromwell Peak 1898 als Arzt für Allgemeinmedizin bei der „London Missionary Society“, die ihn als Arzt nach Hengyang in Zentralchina schickte. In Kuling lernte Dr. Ernest Cromwell Peak seine spätere Ehefrau Amanda Elizabeth Ann Peake kennen, die ebenfalls im Missionsdienst stand. Die beiden heirateten und nach der Geburt des ersten Sohnes, Ernest Leslie, kam Mervyn Laurence Peake am 09.07.1911 in Kuling zur Welt. Kurz nach der Geburt von Mervyn wird Dr. Peake die Leitung eines Krankenhauses im 800 Meilen nördlich gelegenen Tientsin übertragen, wo Mervyn die „Tientsin Grammar School“ besuchen sollte.
Es war eine Zeit großer Umbrüche für China, da zu Beginn des 20. Jahrhunderts die herrschende Qing-Dynastie unter ihrem Kaiser Pu Yi in Trümmern lag und sich das Land sich in zwei große Lage spaltete, zum einen die Gemäßigten, die eine Reform des Kaisertums hin zu einer konstitutionellen Monarchie im Sinn hatten, zum anderen die Revolutionäre, die das Kaisertum endgültig beseitigen und China zu einer Republik machen wollten. Dieser Konflikt sollte noch einige Jahre schwellen und schließlich im chinesischen Bürgerkrieg enden. Es ist in der Gormenghast-Reihe recht offensichtlich, wie Peake die Eindrücke dieses in Ritualen und Traditionen verhafteten Landes, das seine ersten elf Lebensjahre nachhaltig beeinflusst hat, in seine Geschichten einfließen ließ.
Bereits in diesen jungen Jahren bewies Mervyn großes Talent als Zeichner. Zu seinen liebsten Büchern in seinen Jugendjahren zählte er Robert Louis Stevensons Buch „Die Schatzinsel“, die er in Teilen sogar auswendig konnte. Und so dürfte seine Liebe zu Piraten sicherlich noch aus dieser Zeit herrühren. Ende 1922 kehrte die Familie nach England zurück, wo sein Vater damit begann, eine eigene Arztpraxis zu etablieren. Mervyn besuchte das Eltham College in London, welches später ebenfalls in abgewandelter Form Einzug in den Kosmos von „Gormenghast“ hielt. Als Schüler zeigt sich Mervyn überaus achtlos in seiner Rechtschreibung und seinen Examensvorbereitungen, auch wenn er ansonsten als recht guter Sportler durchging. Lediglich der Einsatz seines Kunstlehrers bewahrt ihn vor einem Schulverweis. Mit dem Lehrer Eric Drake, der das Schulmagazin herausgibt und mit seinem Bruder Theaterstücke inszenierte, verbindet ihn eine gewisse Freundschaft.
1929 erhält er die Zulassung für die „Royal Academy of Arts“, die er allerdings nach vier Jahren wieder verlässt, um dem Ruf seines alten Lehrers Eric Drake zu folgen, der eine Künstlerkolonie auf der Kanalinsel Sark gegründet hat. Hier arbeitet Peake weiter an seiner Malerei, gibt Ausstellungen und schafft es sogar die Aufmerksamkeit von Robert Kirkland Jamiesons auf sich zu lenken, der zu dieser Zeit Leiter der Westminster School of Art war. Im Jahre 1935 endet der Lebensabschnitt auf Sark für Peake allerdings erst einmal. Er kehrt nach London zurück um das Angebot von Jamieson anzunehmen, als Lehrer an der Westminster School of Art zu arbeiten. Hier lernt er die schüchterne Schülerin Maeve kennen, die er mit seiner liebenswürdigen, aber extravaganten Art zu beeindrucken weiß und die er am 01.12. 1937 heiratet. Ende der Dreißiger Jahre hat Peake als Künstler eine beachtliche Reputation erreicht: Queen Elizabeth kauft eins seiner Bilder, Walter de la Mare schätzt seine Gedichte und Dylan Thomas leiht sich sogar Anzüge von ihm. Kurz nach dem Tod seiner Mutter 1939 wird sein erstes Buch veröffentlicht „Captain Slaughterboard drops anchor“, ein Kinderbuch mit eigenen Texten und Illustrationen. 1940 wird sein Sohn Sebastian geboren.
Nach dem Kriegsausbruch meldet sich Mervyn bei der „Royal Artillery“. Allerdings stellt sich rasch heraus, dass der Künstler Peake recht ungeeignet für den Kriegsdienst ist. Rasch folgt der Wechsel zu den „Royal Engineers“, begleitet von häufigen Wechseln in der Stationierung. Zu dieser Zeit beginnt er „Titus Groan“ zu schreiben und erhält sogar von seinem befehlshabenden Offizier die offizielle Befreiung dieser Tätigkeit nachzukommen. Was zunächst als unsinnige Unterhaltung zwischen zwei aufgeblasenen Trotteln begann, wird als Skizze von Peake rasch verworfen und nach und nach beginnt sich die Idee von Gormenghast zu entwickeln, die er in den Jahren zwischen 1940 bis 1943 zu Papier brachte.
Als 1942 Peakes zweiter Sohn Fabian zur Welt kommt, entfernt er sich mittels gefälschter Papiere von der Armee, um bei Maeve sein zu können, allerdings erleidet er kurze Zeit später einen Nervenzusammenbruch und ein längerer, wenn auch produktiver, Aufenthalt in einem Sanatorium folgt. Im Jahr darauf wird er aus der Armee entlassen.
Mit der von ihm illustrierten Ausgabe des „Rime of the ancient mariner“ wird Peake in England als „der größte lebende Illustrator unserer Zeit“ gefeiert, wohingegen seine Prosa noch einiger Verbesserung bedarf. So wird seine Erfassung von „Titus Groan“, die er an den Verlag Eyre & Spottiswoode verkaufen möchte, in seiner Erstfassung als nicht veröffentlichbar abgelehnt. Allerdings ermutigt man ihn zu einer Überarbeitung seines vorgelegten Manuskriptes, da man durchaus das Potential erkannte.
Im Jahr 1945 erhält Peake die Position eines „War Artist“ und reist im Rang eines Captains mit dem Reporter Tom Pocock in das vom Krieg zerstörte Deutschland. Allerdings wird diese Reise bei weitem nicht das erhoffte Abenteuer. Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen kehrt Peake traumatisiert nach England zurück und sollte diese Eindrücke Jahre später in „Titus alone“ verarbeiten.
Nach der Veröffentlichung der Gedichtsammlung „Shapes and Sounds“ im Jahr 1941 und den Nonsensversen „Rhymes without Reason“ 1944 veröffentlicht 1946 der Verlag Eyre & Spottiswoode die von Peake überarbeitete Fassung von „Titus Groan“, der im gleichen Jahr die von ihm illustrierte Ausgabe von „Alice’s Adventures in Wonderland“ folgt. Der Roman „Titus Groan“ wird von der Presse und dem Publikum mit recht geteilter Meinung aufgenommen.
Die Familie zieht abermals auf die Kanalinsel Sark, wo sie ein großes Haus kauft, welches im Krieg den deutschen Besatzern als Hauptquartier gedient hatte. In dieser Zeit entsteht „Gormenghast“ und die Illustrationen zu den Romanen „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1948) so wie „Treasure Island“ (1949) von R.L. Stevenson. Die ständigen Reisekosten von Mervyn zehren allerdings an dem nicht unbedingt üppigen Einkommen, so dass die Familie nach der Geburt ihrer Tochter Clare 1949 wieder nach London zieht, wo Mervyn eine Stelle als Lehrer an der Central School of Art in Holborn annimmt.
Das Jahr 1950 steht für Peake ganz im Zeichen der Veröffentlichung von „Gormenghast“ und der Gedichtsammlung „The Glassblowers“, für die er noch im gleichen Jahr von der Royal Society of Literature mit dem W.H. Heinemann Award ausgezeichnet wird und zweifelsohne mit einer der Höhepunkte seiner Karriere sein dürfte. Ab 1954 arbeitet er an dem dritten Band der Gormenghast-Reihe „Titus Alone“ und bereits 1956 adaptiert die BBC den Roman „Titus Groan“ als Hörspiel. Die finanzielle Situation von Peake hat sich in den letzten Jahren zusehends verschlechtert und so setzt er große Hoffnungen in das Theaterstück „The Wit to Woo“, welches 1957 seine Uraufführung erlebt. Allerdings sind die Kritiken recht mäßig und auch der gesundheitliche Zustand von Peake verschlechtert sich immer mehr.
In den nächsten Jahren folgt eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser, da Peake wahrscheinlich unter Parkinson leidet. Allerdings kann keine befriedigende Diagnose gestellt werden und zahlreiche unterschiedliche Behandlungen folgen. Erst Ende der sechziger Jahre bekommt sein Werk – nicht zuletzt durch den unermüdlichen Einsatz seines Bewunderers Michael Moorcock – größere Bekanntheit. Mervyn Peake verstirbt am 17.11.1968 in Burcot, in der Nähe von Oxford.
FazitDem Schriftsteller Peake lag es daran die phantastische Literatur von dem nostalgischen Eskapismus und der Besessenheit vom Übernatürlichen zu befreien und auf eine Darstellung der gewöhnlichen Psyche und zwiespältigen Erfahrung hinzulenken. Und so beginnt die ehemals unschuldige und einfältige Figur von Titus in diesem Band eine weitaus größere Rolle zu spielen, als sie es vorher im Vergleich zu Steerpike tat. Doch liegt die Stärke von Peake nicht unbedingt in seiner Geschichte, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft als Erzähler eine enorme visuelle Kraft auszustrahlen, die den Leser in ihren Bann zieht. Auch in diesem Band scheint es so, als würde der Maler Peake von einem Bild zum nächsten eilen, um immer wieder noch imposantere Impressionen auf Leinwand zu bannen, als das er eine flüssige und kohärente Geschichte erzählt. Doch diese enorme Ausdruckskraft in seinen Episoden ist zugleich eine der größten Schwächen von „Der letzte Lord Groan“, da die bisherige Tiefe und zum Teil auch die Spannung der beiden ersten Bände ein Stück weit verloren geht. Man wartet zumeist vergebens auf die mystische Tiefe, die einem im Schloss umfangen hat und bekommt hier etwas ganz anderes geliefert.
Man muss sich als Leser auf den ganz besonderen Stil von Peake einlassen, insbesondere wenn er Muzzlehatchs dröhnendes Monstrum von einem Wagen, Hubschrauber und andere moderne Erfindungen erwähnt oder aber auch deutliche Anspielungen auf das Konzentrationslager Bergen-Belsen macht. Dies ist nicht unbedingt jedermanns Geschmack und vielleicht keinesfalls das, was man sich nach den beiden ersten Bänden als Leser erhofft hat. Einige dürften diese Weiterentwicklung ebenso wie die Fortführung Geschichte ins Absurde begrüßen, anderen dürfte diese vielleicht zu abstrakt erscheinen. Wenn man nur seine Freude an Gormenghast gefunden hat, dann sollte man unter Umständen die Reise von Titus mit seinem Abschied aus dem verfallenen Gemäuer hinter sich lassen – hat man aber Freude an Peake gefunden, so darf man sich dieses extravagante Stück phantastischer Literatur nicht entgehen lassen. Und hierbei ist es sicherlich keine Schande, dieses Buch nicht auf Anhieb zu verstehen oder es aber erst in einem zweiten oder dritten Anlauf zu Ende zu lesen.
Was Peake mit seinen „Bildern“ von Gormenghast erschaffen hat, sucht sicherlich seinesgleichen und ist nicht zuletzt sprachlich ein Beweis der großen Schaffenskraft des Autors. Ein weiterer gelungener Band der Reihe, der in der von Alexander Pechmann durchgesehenen Übersetzung von Annette Charpentier erscheint und mit einem Vorwort von Michael Moorcock aufwarten kann. Für mich eine absolute Empfehlung – aber Vorsicht: Keine leichte Kost!
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