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Horizon: Grimm
Bewertung:
(3.8)
Von: Patrick Pricken
Am: 02.02.2004
Autor:Robert J. Schwalb
Typ:
System:d20 Kampagnenset
Setting:Grimm (Horizon)
VerlagFantasy Flight Games
ISBN/ASIN:1-58994-154-3
Inhalt:62 Seiten Softcover
Sprache:Englisch

Grimm

Es war einmal...

Es war einmal ein Buch, dass sich mit dem Rollenspiel in einer Welt befasste, wie sie uns aus Grimms Märchen bekannt war. Dieses Buch hatte ein buntes Cover, auf dem ein grausliges Elementarwesen drei kleine Kinder zu bedrohen schien.

Im Inneren des Buches fad sich relativ schmuckloser schwarzer Text auf weißem Grund, stets umrahmt von gezeichnetem Efeu und einem riesigen Bohnengewächs. Auch weitere Bilder waren dort zu sehen, allesamt schwarzweiß und von durchschnittlicher bis sehr guter Qualität.

Las man das Buch, so begab man sich in ein Land voller dunkler Träume und finsterer Ideen, wo selbst das klarste Weiß nur düster-grau zu scheinen vermochte. In diese Welt, so ging die Legende, verbannten einst die Brüder Grimm die Kreaturen, die sie für ihre literarischen Ideen selbst aufgespürt.

 

Die Gefahr des Buches wird dann schnell offenbar, wenn man sich vor Augen hält, dass kaum ein Mensch je die Lektüre mit gesundem Verstand zu überstehen vermochte. Auch ich spüre, während ich diese Zeilen schreibe, den Wahn wieder stärker werden, und bald, so weiß ich, werde ich ihm nachgeben müssen... hoffentlich, nachdem ich diese Warnung vervollständigen kann.

Auch die Lektoren des Buches sind darüber wahnsinnig geworden; das schließe ich aus der Tatsache, dass es eine große Fülle von vermeidbaren Fehlern gibt, bei denen Bezeichnungen verändert werden oder andere Ideen im Laufe des Buches eine Wandlung erfahren. Einzig die Möglichkeit, dass von der ersten zur zweiten Fassung gar kein Lektorat stattfand, vermag mich hinsichtlich der Lektoren noch zweifeln zu lassen.

 

Das Buch selbst, dieses Machwerk dunkelster Rituale, ist in vier Kapitel unterteilt. Kapitel Eins beginnt ganz harmlos mit der Vorstellung der Helden. In der Welt der Sagen und Legenden können sich nur Kinder zurechtfinden, und deshalb muss man die Rolle eines Kindes übernehmen, um erfolgreich gegen den Großen Bösen Wolf bestehen zu können.

Die sieben "Archetypen", von den Kindern verkörpert, ersetzen Klasse und Stufe aus anderen, wesentlich hoffähigeren Regelwerken. Es sind derer der "Bully", der Raufbold und Erpresser, ein starker und gemeiner Kerl, der aber zu seiner Truppe hält; der "Dreamer", ein eher träumerischer Jungspund, schon in unserer Welt halb gefangen in anderen Reichen, nun plötzlich in einer Umgebung, in der er sich erstaunlich gut zurecht findet; der "Jock", ein Sportler, der eher Athletik denn Geist in seinem Leben sucht; der "Nerd", ein Geistesriese, alleine aber unfähig, selbst einen Baumstamm entlang zu kriechen; das "Normal Kid", ein Auffanglager für alle Kinder, die sich nicht vertreten sehen; den "Outcast", mit schwarzer Tusche und Sicherheitsnadel zusammengehaltener Schleicher; und schließlich das "Popular Kid", freundlich und süß, immer beliebt und von den Lehrern bevorzugt.

Man muss die Infamie dieses Konzeptes loben. Es fällt leicht, die Archetypen zu verstehen und sich in sie hinein zu versetzen. Alleine die Vorstellung, der Raufbold, der einen in der Schule quälte, müsse nun einen vergifteten Apfel essen... köstlich, in mehr als einer Hinsicht.

Jeder Archetyp hat besondere Fähigkeiten, und eine besondere Schwäche. So kann der Raufbold zwar sehr gut auf Schwächere einprügeln, gegen eine Überzahl jedoch verlässt ihn sein Mut schnell.

Die Archetypen besitzen, wie sollte es anders sein, eine Anzahl von Stufen entsprechend der dunklen Zahl sechs. Dabei steigen sie nicht durch Erfahrungspunkte auf, sondern stets nach Vollendung eines Abenteuers. Eignet sich Grimm zwar grundsätzlich am Besten für Einzelabenteuer, könnte man so zumindest eine kurze Kampagne spielen. Die sechste Stufe ist nahezu immer gleichzusetzen mit dem Erwachsen werden. Und darum geht es angeblich in dem Buch: Sich seinen Ängsten zu stellen (bzw. den Ängsten der Kinder), und am Ende gestärkt und reifer daraus hervor zu gehen.

 

Aber ach, schon in Kapitel Zwei wird klar, wie schwierig das wird. So hat man nur eine begrenzte Fertigkeitsliste, auf der viele Fertigkeiten zusammengelegt wurden oder ganz verschwanden. Diese Fertigkeiten verkörpern eine gute Zusammenstellung dessen, was junge Kinder und Beinahe-Teenager wohl als lernenswert erachten könnten.

Des Weiteren gibt es Herkunftstalente zur Verstärkung der besonderen Fähigkeiten der einzelnen Archetypen. Man ist erst dann ein gutes beliebtes Kind, wenn man auch aus einer reichen Familie kommt, und nur der Außenseiter, der sich auf der Straße zurechtfinden muss, hat wahrlich nichts zu lachen.

 

Im dritten Kapitel schließlich kommt es zum Höhepunkt der vermeintlichen Hilfestellung. Hier wird zunächst die Ausrüstung beschrieben, mit einigen besonderen Kampfregeln (z.B. für den Ringkampf, da Kinder alle Klein sind). Man kann sehen, wie viel Schaden ein Hockeyschläger macht und wozu ein Kochtopf auf dem Schädel gut sein kann. Des Weiteren gibt es ganz besondere Ausrüstung, einen "Focus", der magische Effekte produzieren kann, wie z.B. ein tragbares Telefon, das einmal am Tage eine Verbindung zur Auskunft aufbaut und eine Frage beantwortet. Auch Gegenstände wie Zauberstäbe und Kuchen, die jemanden schrumpfen lassen, der ihrer gesprochenen Aufforderung zum Essen folgt, sind möglicherweise zu finden.

Man sieht, die Autoren haben in ihrer Teuflischkeit viel Fantasie und Ideenreichtum aufgewandt, und sind nur selten an der Barriere zur 3.5-Tauglichkeit gescheitert. Tatsächlich eignen sich die Regeln D&Ds nicht allzu sehr für ein solch frei angelegtes Spiel, wie es hier erforderlich, aber mit der Einführung von "Inspiration" wird ein wenig dieser Dinge behoben.

Diese Inspiration hat jedes Kind inne, bei Erwachsenen aber verloren gegangen. Sie verkörpert die reine Vorstellungskraft der Kleinen, mit denen sie Würfe beeinflussen oder wiederholen können, aber auch Gegenstände erschaffen oder die Welt verändern. "Ich wette, da vorne kommt gleich eine Brücke." Mehr sagen sie nicht, und schon schafft ihre Inspiration einen Überweg.

Auch Zauberei wird mittel dieser großartigen Quelle erlernt und gewirkt, dabei in sehr beschränktem Maße. Es wird sehr selten sein, Zauber des vierten Grades zu beherrschen, und von vielen Schulen gar unmöglich. Zudem werden die Zauber stets einzeln erlernt, und kosten große Menge Zeit und Inspiration, was ihre Anwendung seltener macht. Diese Abkehr von traditionellen Spruchbüchern verknüpft mit dem Erhalt auch der mächtigeren Zauber - zugegeben, Hervorrufung und Nekromantie können die Kinder nicht erlernen - ist grundsätzlich gut ersonnen, aber nicht elegant genug gelöst. Man hätte wohl detailliert auf die Zauber eingehen müssen, aber dann wäre vielleicht die d20-Taugllichkeit gefährdet gewesen.

 

Kapitel 4 schließlich präsentiert die Welt, in die es die Kinder verschlagen hat. Es ist dies eine Welt der dunkel verzerrten Märchen, und wer aus unserer Welt dorthin verschlagen, wird sich wohl erst einmal verirren müssen. Schneewittchen liegt immer noch in ihrem Sarg, doch Obacht allen, die sich ihr nähern wollen. Aschenputtel ist zur peitschenschwingend-dominanten Quälerin verkommen. Diese und weitere Gefahren lauern auf die nichts ahnenden Recken, die mit ihrem angelernten Wissen glauben, zurechtkommen zu können.

Selbst das Land selbst ist böse und gemein, und Pfade und Wege ändern sich stündlich, wenn sie so belieben. Tatsächlich wären ohne Inspiration die Kinder wohl sogleich verloren, und auch so wird es schwer, dem Teufel zu entkommen, den Drachen zu finden und ihm den Schlüssel abzuluchsen, mit dem man wieder nach Hause kommt. Es fehlen in diesem Kapitel aber leider einige Details, die das Land genauer beschreiben oder die Situation der Kinder besser darlegen würden.

Man wird auch gewahr, dass es hier abseits des Titels um mehr geht als nur die Märchen der Grimms. Klassische Erzählungen im Allgemeinen sind hier aufgenommen, was nicht-Amerikanern vielleicht Probleme machen könnte, die Humpty Dumpty, die Drei kleinen Schweinchen oder Mutter Gans nicht kennen.

 

Das Buch schließt mit einem Anhang, der noch einmal die Themen definiert, die in einem Spiel in Grimms Welt zur Sprache kommen sollten. Mehr als einfach nur Spaß zu machen, haben Märchen traditionell eine Moral, und diese sollte in einem Abenteuer auch in dieser verzerrten Variante nicht vergessen werden.

Wo aber verliert man den Verstand? Wenn man letzten Endes realisiert, dass man niemanden hat, der mit in die Welt von Grimms Märchen hinabsteigt, und man daher über das Lesen nicht hinaus kommen wird.

 

Und wenn sie nicht gestorben sind...

Grimm ist ein Buch voller Inspiration, die manchmal an die Grenzen der d20-Regeln stößt, aber ansonsten ein lebendiges Bild einer düsteren Variante unserer Märchenwelten zeichnet. Die Idee, Kinder als Spielfiguren einzuführen und ansonsten ein "klassenloses" System zu verwenden, passt hervorragend. Leider finden sich viele Fehler, die mit einem gewissenhafteren Lektorat leicht hätten vermieden werden können, und manchmal wünschte man sich etwas mehr Details in Welten- und Wesenbeschreibung.

Eine lange Kampagne wird man mit Grimm wohl eher nicht spielen, aber vielleicht doch lange genug, um die sechs Stufen der Archetypen auszureizen. Für Einzelabenteuer aber eignet sich dieses Werk hervorragend, z.B. als Begleitung zum Kinostart von "Shrek 2". Man sollte nur aufpassen, mit welchem SL man spielt - die Versuchung, seine dunkelsten Ideen und makabersten Vorstellungen einzubauen, könnte sich als zu verführerisch erweisen...