„Midgard 5 – Der Kodex“ ist eines der beiden Grundregelwerke des ältesten deutschsprachigen Rollenspiels („Das Arkanum“, welches die Magieregeln beinhaltet, wird auch noch rezensiert). Die vorherige Version erschien 2001, so dass doch einige Zeit verstrichen ist und, so sehe ich es jedenfalls, sich doch einiges in der Rollenspiellandschaft getan hat.
Bevor es mit der eigentlichen Rezension losgeht, mal noch ein paar einführende Worte, da (zumindest war es für mich vollkommen neu) Midgard doch wohl für einige eher Neuland sein könnte. „Midgard – Das Rollenspiel“ hat trotz des Namens nichts mit der nordischen Mythologie zu tun, sondern ist eben Rollenspiel-(System), das im Low-Fantasy-Bereich anzusiedeln ist. Obwohl ich später in der Rezension noch intensiver darauf eingehen werde, hier für Neugierige schon mal ein paar Einschätzungen:
• Sehr regellastig • Aktiver Angriff und Verteidigung • Eine Prise „Realismus“ • Ein durchaus tödliches System (für die Charaktere, nicht die Spieler!)
Aber kommen wir erstmal zur Aufmachung. „Midgard 5 – Der Kodex“ ist ein Hardcover mit insgesamt 210 Seiten und ist in Vollfarbe gedruckt. Die Illustrationen entsprechen einem Stil, den ich wohl als „Retro-Fantasy“ bezeichnen würde. Dies ist von meiner Seite aus wertungsneutral anzusehen, denn wie immer sind hier die Geschmäcker verschieden. Ich empfand es stimmig und passend, eine willkommene Abwechslung zu anderen Rollenspielprodukten. Auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, möchte ich erwähnen, dass außerdem zwei Lesebändchen in unterschiedlichen Farben vorhanden sind, was man hier durchaus gebrauchen kann, einerseits aufgrund der Regellastigkeit (schnelles Nachschlagen), andererseits durch die Tatsache, dass dieses Werk sowohl für Spielleiter als auch Spieler gedacht ist, so dass man sich hier die Bändchen „teilen“ kann.
Wichtig zu erwähnen, weil (leider) nicht selbstverständlich: Mit dem Erwerb dieses Buches bekommt einen Code, den man auf einer Homepage einlösen kann, um zusätzliches Material zu bekommen. Dies beinhaltet die pdf-Version des Werkes, Charakterbogen, Abenteuer und mehr. Ein ganz großes Plus!
Inhalt
„Midgard 5 – Der Kodex“ besteht aus insgesamt fünf Kapiteln, die alle zwischen 40 – 50 Seiten umfassen, ausgenommen das Kapitel über den Aufstieg von Charakteren, das mit knapp über 20 Seiten kürzer ausfällt.
Das erste Kapitel, das sogenannte „Buch des Ursprungs“ beschäftigt sich mit der Charaktererschaffung für ein Abenteuer/eine Kampagne. In einer anderen Rezension eines Midgard-Veteranen schätzt er die Charaktererschaffung für Spieler mit Vorkenntnissen auf ca. 30 Minuten, für unerfahrene Spieler auf ca. 1 Stunde, für Spieler von Zauberwirkern auf ca. 1,5 Stunden. Ich würde ja zur letzteren Kategorie gehören und ich halte diese Zahlen für sehr optimistisch, so viel schon mal vorweg! Wer also auf solche doch regel-/zahlenlastigen Erschaffungsprozesse keine Lust hat, kann die Rezension an dieser Stelle beenden, denn nichts, was ich später noch an positiven Eigenschaften herausstellen kann, wird dies abschwächen.
Fangen wir von vorne an, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, weil dann sprengt diese Rezension jeglichen Rahmen. Es gibt insgesamt fünf Rassen (Menschen, Gnome, Zwerge, Elfen, Halblinge), die insgesamt 15 Abenteuertypen spielen können (Assassinen, Barbaren, Barden, Glücksritter, Händler, Hexer, Krieger, Magier, Ordenskrieger, Priester (2x), Spitzbuben, Waldläufer, Druiden und Schamanen). Dabei ist zu beachten, dass nicht jede Rasse jeden Abenteuertyp spielen kann und auch gewisse Mindestwerte benötigt und dass sich aufgrund des Fertigkeitensystems auch Charaktere gleichen Abenteuertyps sehr unterscheiden können. Das Fertigkeitssystem ist, mit kleineren Einschränkungen, frei erlernbar, so dass Charaktere sehr individuell erstellt werden können. Hinzu kommen noch die Waffenfertigkeiten der einzelnen Charaktere.
Die Basiseigenschaften (oder Attribute) eines Charakters bestehen aus: Stärke, Geschicklichkeit, Gewandtheit Konstitution, Intelligenz und Zaubertalent. Dazu kommen noch die Eigenschaften persönliche Ausstrahlung, Willenskraft und Aussehen, die wie die oberen sechs mittels eines d100 ausgewürfelt werden, aber noch durch die Basiseigenschaften modifiziert werden. Und jetzt mal ein Beispiel für Rechenarbeiten, die einen Spieler/Spielleiter erwarten:
Willenskraft= W%+2x(Ko/10+In/10)-20
Wenn man Midgard spielen will, sollte man sich an sowas gewöhnen. Ist sicherlich keine Atomphysik, aber andere Systeme machen es da deutlich einfacher.
Kommen wir mal zu einem Alleinstellungsmerkmal (in dieser Form) von Midgard, den Lebenspunkten bzw. Ausdauerpunkten. Vorweg: Lebenspunkte bleiben (fast) immer gleich während der Entwicklung des Charakters, Ausdauerpunkte können steigen. Ausdauerpunkte sind quasi „der Schutz“ eines Charakters, bevor er Lebenspunkte verliert, was in zu hohem Maße natürlich zum Ableben des Charakters führt. Wie dies aussehen kann, werde ich bei der Beschreibung des nächsten Kapitels erläutern. Wichtig ist nur, dass, wenn ein Charakter erschöpft ist (wenig/keine Ausdauerpunkte mehr), er mit Abzügen und einer akuten Gefährdung seines Lebens in Kampfsituationen rechnen muss.
Kurz das Würfelsystem in Midgard: Fertigkeitsproben z. B. werden mittels eines d20 ausgewürfelt. Erreicht der Spieler inklusive Modifikatoren einen Wert von 20, gilt die Probe als geschafft. Eine 1 bzw. 20 gelten als kritische Patzer bzw. kritischer Erfolg, mit teilweise sehr harten Auswirkungen. Können Fertigkeitsproben (wozu auch Angriffe zählen) aktiv verhindert werden, wird ein Widerstandswurf dagegen gemacht (z. B. parieren/ausweichen, aber auch aktives Verhindern von Spurenlesen). Erreicht dieser mindestens den Wert der Fertigkeitsprobe, so wird diese (teilweise) verhindert. Näheres im Kapitel „Kampf“.
Ich könnte jetzt noch endlos viel zur Erschaffung eines Charakters schreiben. Es ist einfach eine Menge an Regeln, abgeleiteten Regeln/werten, etc., die in diesem Kapitel auf Spieler hereinprasseln. Nicht umsonst gibt es „Kodex“ zwei Seiten nur Übersicht nur zu Erstellung eines Charakters. Nicht falsch verstehen, es ist wie gesagt keine Atomphysik, nur definitiv langwierig und komplexer als in anderen Systemen!
Das zweite Kapitel „Das Buch der Gesetze“ teilt sich in die Unterkapitel „Grundregeln“ und „Kampfregeln“ auf. Grob gesagt, wird hier abgehandelt, wie und in welcher Situation welche Würfe angewendet werden. Ganz hilfreich hier: Das Abkürzungsverzeichnis am Ende des Buches, ohne dass ich zwischendurch echt aufgeschmissen gewesen wäre. Auch die Bewegung und Kampfsequenz werden hier behandelt; gerade in der Kampfsequenz wird hier unterteilt in Bewegungsphase und Angriffsphase, die getrennt voneinander durchgeführt werden. Natürlich könnte man jetzt Beispiele für Erfolgswürfe, Widerstandswürfe, Prüfwürfe, etc. auflisten, aber ich beschränke mich einfach mal auf die Darstellung einer Angriffssequenz, um nochmal auf die Besonderheit des Regelwerkes „Midgard“ einzugehen.
Der Charakter startet einen Angriff. Er macht einen Wurf mit einem d20 (+ Modifikatoren wie z. B. Waffenfertigkeit) gegen den Wert 20. Drunter = Kein Treffer, Drüber = Treffer. Bei Treffer würfelt er je nach Waffe den Schaden aus, der von den Ausdauerpunkten des Gegners abgezogen wird. Der Verteidiger würfelt einen Abwehrwurf (d20 + Modifikatoren) gegen den Wurf des Angreifers. Gleich hoch oder höher = Es bleibt beim Verlust der Ausdauerpunkten, Niedriger = AUA!
Denn jetzt wird der Schaden (modifiziert durch Rüstung) auch noch von den Lebenspunkten abgezogen, die, wie schon erwähnt, nicht im Laufe einer Charakterkarriere ansteigen! Ein Beispielcharakter im Buch hat 15 Lebenspunkte, ein Zweihänder mach 2d6 Schaden, mehr muss man eigentlich nicht sagen, außer, dass wenige Lebenspunkte auch noch Einschränkungen mit sich bringen. Tödlich, tödlich, auch in höheren Stufen (bei Midgard: Graden).
Und weil es so schön ist, gibt es ja auch noch kritische Treffer…und kritische Abwehr (und das Ganze auch noch in der Patzervariante!). So kann es sein, dass man als Angreifer einem Gegner mal ein Auge verlieren lässt, aber auch, dass man als Angreifer (bei einer kritischen Abwehr) selbst schwer verwundet (also direkt Lebenspunkteverlust) wird.
Hm...Hmmmm…HMMMM…was soll ich davon halten? Kann spannend sein, aber immerhin 5 % bei jedem Wurf, dass sowas eintritt. Muss jeder für sich selbst entscheiden, inwieweit so ein System etwas für einen ist. Ich würde es zumindest ausprobieren und es nicht von Vorneherein verdammen.
Das dritte Kapitel ist das „Buch der Begabungen“. Fertigkeiten, Fertigkeiten und…Fertigkeiten! Langes Kapitel, gutes Kapitel, da wirklich eine Vielzahl von Fertigkeiten vorgestellt und erläutert wird. Grob gibt es drei Kategorien, angeborene Fertigkeiten, allgemeine Fertigkeiten und Waffenfertigkeiten. Schön fand ich die angeborenen Fertigkeiten, die ein Charakter unverändert seine gesamte Karriere behält, die aber nicht immer nur positiv sein müssen (Beispiel: Schwerhörigkeit, aber nur bei Wahrnehmungsfertigkeiten möglich).
Das vierte Kapitel „“Buch des Ruhmes“ beschäftigt sich mit dem Aufstieg der Charaktere (statt „Stufe“ „Grade“ genannt in Midgard), welches ich mir zugegebenermaßen nicht besonders intensiv durchgelesen habe. Aber es ist definitiv übersichtlich und verständlich und es wird meiner Meinung nach deutlich, dass Midgard sehr viel Wert auf die individuelle Entwicklung von Charakteren legt.
Abgerundet wird „Der Kodex“ durch den Anhang, der eine kurze Einführung in die Welt Midgard nebst Karte, eine kleine Ansammlung von Monstern samt Werten sowie Kosten eines Abenteuers (Waffen, Ausrüstung, etc) und Inhaltsverzeichnis samt Abkürzungen enthält.
Zur Welt sei gesagt, dass sich die einzelnen Länder dort sehr an irdischen Vorbildern orientieren, z. B. schottisch-normannische Kultur oder Frankreich während der Renaissance. Ob man wirklich dort spielen möchte, ist natürlich abhängig von der Gruppe. Ich habe mich bei der Rezension eher auf „Midgard“ als Regelsystem konzentriert, denn die Beschreibungen sind jetzt auch nicht so detailliert wie etwa in anderen spezifischen Settingbänden anderer Rollenspiele.
Fazit:„Midgard 5 – Der Kodex“ muss sich natürlich eine Frage gefallen lassen: Warum sollte ich für ein Fantasy-RPG gerade dieses System nehmen und nicht eines der „Großen“, sprich D&D oder DSA?
Ich würde die Frage für mich so beantworten: Weil es anders ist. Ob besser oder schlechter kann nur ein Playtest aller Systeme für jede Gruppe zeigen, eine Pauschalaussage wage ich nicht zu treffen.
Da es sich hier um ein Grundregelwerk handelt, gibt es keine Wertung. Aber eine Empfehlung: Wer 60,00 € über hat (denn 30,00 € müssen noch für „Das Arkanum“ ausgegeben werden, denn sonst können keine Magiewirker gespielt werden!), sollte sich über Midgard informieren und es durchaus auch kaufen. Es kann in meinen Augen in jeder Runde durchaus eine willkommene Abwechslung sein, insbesondere das doch tödlichere Niveau gegenüber anderen Systemen mag dem ein oder anderen liegen. Die Aufmachung ist grundsolide, die Rechenarbeit ist wahrscheinlich einmalig groß, danach wird es meiner Meinung nach flüssig laufen. Dass kostenlos wirklich viel Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt wird, kann gar nicht oft genug betont werden. Top!
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